Erfolgreiches Start-up in Penzberg:Vom Küchentisch in die Welt

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4,2 Milliarden Blutproben werden jährlich in Europa in Labore zur Untersuchung geschickt. Auf dem Weg dorthin kann viel passieren, was die Proben unbrauchbar macht. Das Start-up "Smart 4 Diagnostics" - dahinter stehen die Gründer Yannick Timo Böge, Julia Flötotto, Hans Maria Heyn und Malte Dancker (von links) - hat eine lückenlose digitale Überwachung der Transportkette entwickelt. (Foto: Maik Kern www.maik-kern.de)

Das junge Unternehmen "Smart 4 Diagnostics" möchte die Überwachung der Transportkette von Blutproben durch Apps und Bluetooth revolutionieren.

Von Alexandra Vecchiato, Penzberg

Für eine korrekte Diagnose bei Erkrankungen ist oftmals eine Laboruntersuchung von Gewebe- und Blutproben nötig, doch auf dem Weg von der Vene eines Patienten bis in ein Labor kann viel passieren. So müssen die Röhrchen während der gesamten Lieferkette der richtigen Temperatur ausgesetzt sein - zu viel Wärme verdirbt die Proben ebenso wie zu große Kälte. Eine Überwachung gebe es aber bislang "selten bis gar nicht", sagt Yannick Timo Böge. "Bei jedem Discounter ist die Kühlkette für Fleisch besser dokumentiert." Im Sommer kochten die Röhrchen beim Transport, im Winter könne es passieren, dass sie einfrieren. Dies wiederum verändert die Messergebnisse und kann zu falschen Diagnosen führen. Böge sann nach einer Lösung und fand Mitstreiter. Zusammen gründeten sie 2018 das Start-up "Smart 4 Diagnostics", kurz S4DX, das ein Verfahren entwickelte, bei der die gesamte Transportkette von Blutproben digital erfasst wird.

Böge, 38 Jahre, ist Molekularbiologe. Promoviert hat der Jungunternehmer in der Schweiz, wo er auch seine Partnerin kennenlernte. Beide verschlug es nach Penzberg. "Wer zuerst einen Job nach dem Studium findet, sagt, wo es hingeht, und das war meine Lebensgefährtin", erzählt Böge. Er selbst begann als Laborleiter beim Unternehmen "Triga-S" in Habach, das in der Gesundheitsbranche tätig und ein Labordienstleister des Biotech-Unternehmens Roche in Penzberg ist. Dort sei er erstmals über das Problem bei den Blutproben gestolpert. "Es gab Messwerte, die ich nicht verstehen konnte." Böge fiel auf, dass bei den Proben, die quer durch Deutschland verschickt werden, manche Röhrchen verloren gingen oder zu spät und aufgetaut ankamen. Für weitere Untersuchungen ist das Blut somit unbrauchbar. Der Molekularbiologe suchte mit seinem Kollegen Hans Maria Heyn damals für seinen Arbeitgeber nach einer Lösung. Doch die Systeme auf dem Markt erschienen ihm weder "vom Arbeitsaufwand noch von der Zeit her" sinnvoll.

Beide beschlossen, die Datenlücke zwischen der Probenentnahme und der Analyse im Labor zu schließen. Fehler, wie etwa die falsche Beschriftung der Röhrchen, sollten der Vergangenheit angehören. Da Digitalisierungsprozesse auch in der Medizin immer mehr in den Vordergrund rücken, sollte dies der Lösungsansatz für die standardisierte Kontrolle von Blutproben werden. Da weder Heyn, der für die Geschäftsentwicklung zuständig ist, noch Böge aber Software-Experten sind, holten sie die promovierte Informatikerin Julia Flötotto aus Berlin mit an Bord. Das vierte Gründungsmitglied ist der Mediziner Malte Dancker vom Unfallklinikum in Murnau, der inzwischen aus dem Unternehmen ausgeschieden ist. So nahm alles von Böges Küchentisch aus seinen Lauf, wo die vier brainstormten. Das Ergebnis: eine App-basierte Überwachung.

Voraussetzung ist ein mobiles Endgerät wie ein Smartphone, mit dem man QR-Codes scannen kann. So können nicht nur in der Praxis oder im Krankenhaus auf diesem Wege die Proben den richtigen Patienten mit Zeitstempel und vielem mehr zugeordnet werden; es wird auch der Transportweg dokumentiert - mit Temperatur und Ankunftszeit im Labor. Zudem haben die Jungunternehmer spezielle Röhrchen mit elektronischem Innenleben entwickelt. Über Bluetooth werden sämtliche Daten übermittelt. Sollte angezeigt werden, dass die Temperatur zu niedrig ist, können die Mitarbeiter im Labor diese Probe sofort entsorgen, was Zeit und viel Geld spart.

Apropos Geld. "Noch verdienen wir keines damit", erzählt der 38-Jährige. In diesem Jahr möchte das Start-up richtig durchstarten - nicht nur in Deutschland. Brasilien, Argentinien, Österreich und die Türkei sind Märkte, die "Smart 4 Diagnostics" erschließen möchte. Das Software-Unternehmen beschäftigt mittlerweile 26 Mitarbeiter. "Wir wachsen weiter", betont Böge. 13 Nationalitäten sind vertreten, weshalb die Unternehmenssprache Englisch ist. Viele kämen aus dem Umfeld der Technischen Universität München, so Böge. Unterstützung erfährt das Start-up von "Profis" aus der Wirtschaft. Im Aufsichtsrat sitzen unter anderem Ursula Redeker, frühere Sprecherin der Geschäftsführung der Roche Diagnostics GmbH, und Constanze Ulmer-Eilfort, Mitglied beim MDAX-Unternehmen Evotech.

Dass sie auf dem richtigen Weg sind, haben die Jungunternehmer bereits im Gründungsjahr erfahren. 2018 gewannen sie den ersten Preis beim "TechFest" der TU München in Garching. Weitere Auszeichnungen sollten folgen, darunter der renommierte "Innovator of Tomorrow Award". Im September 2021 errangen die Start-up-Gründer den ersten Platz beim "Weltmarktführer - Innovation Day" im Medical Valley in Erlangen.

Innovation gibt es nicht für lau. "Gerade, wenn man Software-Entwickler dazu braucht", erklärt Böge. Es war sozusagen ein Hauptgewinn, dass S4DX im Jahr 2018 von der Europäischen Union (EU) als innovativste eHealth-Lösung in Europa gekürt wurde und das Wildcard-Programm gewann. Verbunden damit waren zwei Millionen Euro Förderung über zwei Jahre für die Entwicklung der Software, der Röhrchen und Geräte. 2019 hat die Europäische Kommission S4DX unter 1852 Bewerbungen von mittelständischen Unternehmen mit dem dritten Platz für innovative Ideen in Europa ausgezeichnet. Das brachte weitere 1,5 Millionen Euro. Inzwischen kann das Unternehmen auf die Unterstützung der Europäischen Investitions Bank zählen. Im Frühjahr 2021 habe man eine "Finanzierungsrunde" in Höhe von fünf Millionen Euro abgeschlossen, so Böge. Interesse weckte die Entwicklung auch auf dem Markt. Mit der Sarstedt AG hat das Penzberger Start-up einen wichtigen strategischen Partner gefunden. Der deutsche Mittelständler ist ein sogenannter Hidden Champion für Blutentnahmesysteme. Sarstedt ist die Nummer drei auf dem Weltmarkt in diesem Bereich.

"Wir mussten viel lernen", erzählt der 38-Jährige. "Das war ein Crashkurs." Mit Industrievertretern zu sprechen, bedeute Austausch auf sehr hohem Niveau. "Wir haben stark von unseren Unterstützern profitiert", wie etwa von Redeker, die stets "ein offenes Ohr für junge Leute" habe. Inzwischen residiert S4DX in einem Innovationsquartier in München. Doch manches erledigt Böge immer noch am Laptop von seinem Küchentisch in Penzberg aus - dort, wo alles begann.

© SZ vom 15.01.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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