Weltmusik-Festival:Comeback der starken Stimmen

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Auch auf dem Nürnberger Hauptmarkt: Der romantische Cantautore und Umweltaktivist Luca Bassanese wird mit seinem "La Piccola Orchestra Popolare" auftreten. (Foto: Aida Music)

In der Nürnberger Altstadt versammeln sich wieder Hunderttausende zum "Bardentreffen"

Von Oliver Hochkeppel, Nürnberg

So ganz können sie es immer noch nicht glauben, das Team um Rainer Pirzkall, den künstlerischen Leiter des Nürnberger Bardentreffens: Dass es jetzt tatsächlich drei Tage lang wieder wie früher abgehen soll, also wie vor den zwei Jahren Corona-Pause. Mit 90 Konzerten auf acht Bühnen mitten in der Altstadt, mit möglicherweise mehr als 200 000 Besuchern, die sich durch die engen Gassen schieben, an hunderten von zugelassenen Straßenmusikern vorbei. So friedlich, interessiert und diszipliniert, wie das wohl nur hier möglich ist. Hier, wo sich binnen eines halben Jahrhunderts aus einem kleinen Liedermacher-Stelldichein das größte Gratis-Open-Air-Weltmusik-Festival der Welt entwickelt hat - ohne seine Wurzeln zu vergessen oder gar zu verleugnen.

Gerade heuer knüpft das Motto an die Anfänge an: "Starke Stimmen" präsentiert die 45. Ausgabe des Traditionsfestivals. Künstler und Bands aus aller Welt, die durch ihre Vokalkunst bestechen oder in ihren Songs gesellschaftliche Missstände thematisieren. Oder wie es Andreas Radlmaier, Leiter des veranstaltenden Projektbüros, formuliert: "Jetzt darf die Kunst wieder ihre Stimme erheben, nachdem Singen zuletzt untersagt war. Grund genug, erstaunliche Mund-Werker und Goldkehlchen aus aller Welt beim Festival-Comeback in den Fokus zu rücken." Alle Varianten der Lauterzeugung mittels Stimmband kommen dabei zum Zug, vom Beatboxen bis zum Kehlkopfgesang. Neben Latin-Grammy-prämierten Vokalgrößen wie Son del Nene und dem A-Cappella-Orchester Vocal Sampling aus Kuba unter anderen die mongolischen Oberton-Experten von Huun-Huur-Tu, der faszinierende Frauenchor Sopa de Pedra aus Portugal, die irischen Folk-Schwestern The Henry Girls, die Mariachi-Musikerinnen Flor de Toloache aus New York oder die Meister des polyphonen korsischen Gesangs von L'Alba. Mit Paulo Flores kommt die Stimme Angolas nach Nürnberg, mit Nina Agot und ihrer Band der aktuelle Soundtrack Kenias.

Mariachi-Musik mal ganz anders: Das all-female Quartett "Flor De Toloache" - die Vier stammen aus Mexiko, Puerto Rico, Kuba und Kolumbien - erobert derzeit die Welt. (Foto: Andrei Averbuch)

Neben diesen außergewöhnlichen Gesangstechnikern stehen aber eben auch Musikerinnen und Musiker "mit Haltung" auf den Bühnen. Friedenaktivistin Yael Deckelbaum aus Israel zum Beispiel, oder die Irin Wallis Bird, die sich seit jeher für Gleichberechtigung stark macht. Die aus Algerien stammende Djazia Satour singt von Exil und Vertrteibung, Mal Élevé, Ex-Frontsänger von Irie Revolte, kämpft in seinen Texten gegen Diskriminierung, und Nomfusi prangert mit ihrer großen Afrosoul-Stimme die soziale Ungerechtigkeit in südafrikanischen Townships an, in denen sie selbst aufgewachsen ist. Auch die Fans deutschsprachiger Liedermacher-Poesie dürfen sich freuen: Erdmöbel stellen das in diesem Jahr erschienene neue Album "Guten Morgen, Ragazzi" vor und Ton Steine Scherben feiert mit dem Nürnberger Liedermacher Gymmick das 50-jährige Bandjubiläum nach, bei Gretchens Antwort erklingt swingender weiblicher Gangsta-Rap. In Bayern noch zu entdecken sind der Hamburger Phil Siemers und die Singer-Songwriterin Juli Gilde, während ihre Münchner Kollegin (mit Wurzeln in Aruba) Ami Warning schon überregional aufgefallen ist und als aktuelle Trägerin des Deutschen Musikautorinnenpreises anreist.

Haben den mongolischen Oberton-Gesang weltweit bekannt gemacht: das Ensemble "Huun-Huur-Tu". (Foto: Huun-Huur-Tu)

Natürlich gibt es auch besten Global Pop jenseits des Schwerpunkts, zum Beispiel mit den Ruhrpott-Balkan-Jazzrockern Botticelli Baby, den Techno-Jazzern Slatec oder dem Tropicalismo-Nachfahren Lucas Santtana aus Brasilien. Außerdem Tanzworkshops und Künstlergespräche (etwa mit den Münchner Volxsmusikern von Dreiviertelblut) im renovierten Pfarrhof St. Sebald. Stark vertreten ist auch die eigene fränkische Szene, unter anderem durch Countertenor und Kulturpreisträger Johannes Reichert (im Duo mit Gitarrist Holger Stamm), durch die Solo-Harfenistin des Nürnberger Staatstheaters Lilo Kraus mit ihrem Weltmusiktrio sowie 16 Acts auf der Bühne am Lorenzer Platz, darunter Hanna Sikasa, Elena Steri, A Tale of Golden Keys oder Leak. Der Bardentreffen-Nachwuchs darf sich samt Mamas und Papas bei den Familienkonzerten an der Insel Schütt austoben. Geladen sind der Gorilla Club aus Köln, die Beatboxer der Razzzelbande, das Berliner Kinderliederduo Pauken und Planeten und "Volxmusikerneuerer" David Saam mit seinem Boxgalopp aus Bamberg.

Mottogetreu ist das Publikum ausdrücklich zum Mitsingen aufgerufen: Bei der "Stimmabgabe" am Samstagabend auf der Insel Schütt sollen alle gemeinsam mit den Crowd-Singing-Experten der Live-Band Sing dela Sing Hits der Popgeschichte anstimmen. Vorkenntnisse sind beim großen "Rudelsingkonzert" nicht erforderlich, die Texte werden mundgerecht mittels Beamer serviert. Karaoke der anderen Art: "So ein Chorkonzert mit bis zu 5 000 Stimmen hat es in der Historie dieses Festivals auch noch nie gegeben", freut sich Rainer Pirzkall.

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