Holocaust-Gedenken:"Wenn die Leute nicht zum Gedenken kommen, dann eben umgekehrt"

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Er will mit Passanten ins Gespräch kommen, dafür hat der 69-jährige Terry Swartzberg seinen Stand aufgebaut. (Foto: Florian Peljak)

Terry Swartzberg tourt mit einer mobilen "Erinnerungswerkstatt" durch München und lädt Passanten ein etwa zu fragen: Was geschah in meinem Wohnhaus, haben hier Opfer der Shoah gelebt? Dabei ergeben sich auch tragische Geschichten.

Von Julian Raff

Der klare Spätherbsttag und der Wochenmarkt locken auf den St.-Anna-Platz, wo es heute ausnahmsweise fast so zugeht wie in der nahen Fußgängerzone. Zunächst nimmt im Getümmel kaum jemand Notiz davon, wie Terry Swartzberg übers holprige Kopfsteinpflaster angeradelt kommt, einen mobilen Infostand im Schlepptau. Am Kirchenvorplatz aufgebaut, lädt er mit seinem Stand die Passanten ein, eine Frage zu stellen, die sie vielleicht schon länger mit sich herumtragen: Was geschah in meinem Wohnhaus, meiner Straße während der NS-Zeit. Haben hier Opfer der Shoah gelebt?

Der 69-jährige Journalist und Aktivist, bekannt für sein pointiertes Auftreten in der Stolperstein-Debatte und für seine Entscheidung, überall öffentlich die Kippa zu tragen, hat überhaupt kein Problem damit, dass seine mobile "Erinnerungswerkstatt" aus dem Rahmen der etablierten Gedenkzeremonien fällt. Tatsächlich handelt es sich um den vorerst einzigen derartigen Pop-up-Stand - in Deutschland und wohl auf der ganzen Welt. Wie viele Menschen er erreicht, wie konservative Juden reagieren werden, ob er sich mit seiner Aktion vielleicht den Vorwurf einhandelt, das Gedenken zu trivialisieren, all das muss sich erst zeigen.

Ein Experiment war es auch, als der US-Amerikaner Swartzberg, damals schon seit 27 Jahren in München daheim und gern weltweit unterwegs, vor fast genau zehn Jahren, am 1. Dezember 2012, begann, überall, wo er seither hinging, die Kippa zu tragen - ob dies gerade ratsam und sicher zu sein schien oder aber nicht. Der Selbstversuch ist für ihn durchwegs positiv verlaufen und längst zur selbstverständlichen Lebenspraxis geworden.

Vor zehn Jahren beschloss er, immer die Kippa zu tragen. (Foto: Florian Peljak)

In der jüdischen Community allgemein und speziell in seiner Münchner Heimatgemeinde "Beth Shalom" bleibt er dennoch umstritten. Die Kontroverse habe schon etwas mit Debattierlust zu tun, sagt Swartzberg. Es geht aber auch um Antisemitismus, den andere real erfahren haben oder schlicht um lebenslang eingeschliffene Gewohnheiten. Dass es ihm trotz gewachsenem Verständnis bis heute nur sehr wenige Glaubensbrüder gleichgetan haben, findet Swartzberg bedauerlich, aber verständlich.

Anfeindungen oder Schlimmeres befürchtet er jedenfalls auch heute am St.-Anna-Platz nicht. Die Polizei schaut pro forma zu Beginn und Ende kurz vorbei - schließlich handelt es sich um eine angemeldete Veranstaltung - und bittet darum, im Zweifelsfall lieber zu früh die 110 zu wählen. Swartzberg bedankt sich herzlich, fast überschwänglich für die Unterstützung. Lobende Worte findet er auch fürs Kreisverwaltungsreferat, obwohl ihm die dortigen Beamten, wie sie ausführlich begründet hätten, im Vorweihnachtstrubel keine Genehmigung für den Marienplatz geben konnten.

So wohl er sich im Lehel fühlt oder auch in seiner Stadtheimat Au-Haidhausen, wo die Erinnerungswerkstatt ebenfalls gastiert, zieht es ihn natürlich auch auf die großen Münchner Plätze und Touristen-Hotspots. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an die Termine am Stachus, am Haus der Kunst und nicht zuletzt am Hauptbahnhof, gerade weil er dort vielleicht auch auf ein etwas schwierigeres Klientel stoßen könnte als im Lehel.

Diesmal steht die mobile "Erinnerungswerkstatt" am St.-Anna-Platz im Lehel. (Foto: Florian Peljak)

Die Gegend um St. Anna wird dagegen ihrem Ruf als gepflegter, überschaubarer Kiez einmal mehr gerecht: Bald fragen die ersten Marktbesucher am Stand nach, darunter bekannte Gesichter aus den beiden ersten Straßenterminen. Aus der Online-Datenbank kann Swartzberg entweder gleich Antwort geben oder diese per E-Mail nachreichen. Wenig überrascht zeigt er sich dabei von den ersten tragischen Zufallstreffern. Dass zum Beispiel in einem Haus an der nördlichen Widenmayerstraße gleich zehn jüdische NS-Opfer gelebt haben, sei nicht ungewöhnlich.

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Einerseits seien sich viele jüdische Münchner erst mit der Verfolgung ihrer Identität bewusst geworden, andererseits habe es je nach Viertel eben auch ausgeprägt jüdische Nachbarschaften gegeben. In der Robert-Koch-Straße 1, deren Geschichte ein vorbeikommender Anwalt aus dem Viertel erfragt, stößt Swartzberg bei nachträglichen Recherchen auf mindestens 40 Opfer. Es handelte sich wohl um ein von den Nazis sogenanntes Judenhaus, wo sie Verfolgte zwangsweise einquartierten, um die Deportation vorzubereiten.

Nicht jeder Gesprächspartner kommt aus dem Viertel oder fragt nach seinem Haus: Ein Besucher aus Schwabing erkundigt sich nach der dortigen Mottlstraße, benannt nach einem aktiv antisemitisch tätigen Musiker des Fin de Siècle, und bringt so die Diskussion um belastete Straßennamen an den Stand. Der Mitarbeiter einer Baufirma erkundigt sich nach dem Grundstück gleich gegenüber, seinem aktuellen Projektgebiet.

Nach knapp zwei Stunden, als Swartzberg vom langen Stehen schon leicht ermüdet gerade zusammenpacken will, kommt noch ein älterer Mann, der sich, in Italien aufgewachsen, als gebürtiger Kroate vorstellt und nach dem Schicksal seines wegen Widerstandsaktivitäten nach Dachau deportierten Großvaters fragt. Ein unerwartet schwieriger Fall für Swartzberg, der Mann hat lange auf der Straße gelebt, wohnt nun in einer Unterkunft und hat weder Telefon noch E-Mail. Swartzberg lässt sich eine schriftliche Kurzfassung der bekannten Fakten samt Kontakt geben und sagt zu, die Anfrage an die KZ-Gedenkstätte weiterzuleiten.

Den Stand transportiert er auf einem Fahrrad. (Foto: Florian Peljak)

Zur gemeinsamen Spurensuche animiert er die Menschen mit offensiver Herzlichkeit, dem selbstironischen Spiel mit Klischees ("ich bin der einzige unmusikalische Jude") und indem er selbst neugierig nachfragt - kurzum, mit einer "Chuzpe", die fast schon zum Markenzeichen geworden ist. Man tauscht Reisetipps, Anekdoten und jüdische Witze aus, kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Die unbefangene Plauderatmosphäre wirkt leicht irritierend vor einem Hintergrund, der eigentlich zwangsläufig befangen macht.

Droht da nicht ein allzu lässiges, oberflächliches Gedenken-to-go? Natürlich versteht Swartzberg seine Aktion nicht als Ersatz für die großen Gedenktage und Gedenkorte, sondern als Anstoß, auch diese wahrzunehmen und, noch besser, selbst zu recherchieren - schließlich stützt er sich großteils auf frei zugängliche Quellen. Die Hoffnung auf weitere Münchner Stolpersteine, im Einvernehmen mit Angehörigen und Grundeigentümern, schwingt ebenfalls mit.

So temperamentvoll er seine Idee umsetzt, geboren ist sie doch, wie er sagt, "aus Verzweiflung". Bei aller Aufmerksamkeit in der Stolpersteindebatte oder mit den "Faces for the Names"-Projektionen, hätte sich Swartzberg doch von Anfang an mehr Teilnehmer für seine Workshops gewünscht, es blieb also nur die Devise: "Wenn die Leute nicht zum Gedenken kommen, dann eben umgekehrt."

Das gilt nicht nur für die Zufallsbegegnungen auf der Straße: Als Mitarbeiter hat Swartzberg Jugendliche von der Montessori-Fachoberschule in Freimann gewonnen. Die Schülerpraktikanten, darunter auch einige, die zuvor wenig bis gar nichts über die Shoah wussten, gestalten Plakate, programmieren Apps oder recherchieren. Dass andere junge Leute stattdessen dieser Tage aus Sorge um die Zukunft Fahrbahnen blockieren, begrüßt Swartzberg ausdrücklich - schließlich fasst er so ziemlich alles, was er selbst mit Blick in die Vergangenheit seit Jahrzehnten unternimmt, im Credo zusammen: "Man muss die Straße besetzen, dort findet das Leben statt."

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