Beim Jazzfestival Südtirol geht es schon lange um mehr als nur um Jazz. Der Bozener Arzt Klaus Widmann, der 2004 die Leitung übernahm, hat nicht nur das Programm Zug um Zug auf die besten derjenigen meist jungen Musiker ausgerichtet, die die Genregrenzen weit über das traditionell unter dem Jazz-Begriff Verortete ausdehnen, er sieht auch einen größeren, kulturell-gesellschaftlichen Auftrag. So hat dieses Festival wie kein anderes seine Region zur Bühne gemacht und mit der Musik ins Schaufenster gestellt: Bespielt werden nicht nur Konzertsäle, Theater oder Kinos, sondern viele der markantesten, interessantesten und schönsten Stellen Südtirols, von der zum futuristischen Innovationspark verwandelten ehemaligen Aluminiumfabrik bis zum das Ufer des Völser Weihers, von den römischen Ruinen im Bozener parco semirurali bis zu den Markt- und Stadtplätzen vieler Gemeinden, vom Berggasthof bis zu den Skihütten hoch oben in Dolomiten. Dafür hat Widmann alle möglichen Organisationen, Firmen, aber auch Landwirte, Winzer, Gastronomen oder Hoteliers als Partner ins Boot geholt.
Heuer haben Widmann und sein Team um Organisator Max von Pretz der Stadt Bozen sogar zur Wiedereroberung öffentlichen Raumes verholfen. Wegen der Corona-Beschränkungen machten sie den Park des Kapuzinerklosters zur Spielstätte. Obwohl einen Steinwurf vom Waltherplatz direkt in der Stadtmitte gelegen, war er in Vergessenheit geraten, verwahrlost und zum Drogenumschlagplatzverkommen. Nun stand dort eine große Bühne vor ein paar 100 überdachten Sitzplätzen, umrahmt von für Ticketing, Marketing und Gastronomie genutzten wunderschönen alten Zirkuswägen, gemietet von einem der bekanntesten italienischen Zirkusse - der "Kapucircus" war geboren, erstmals eine echte Festivalzentrale. 15 der 36 Konzerte (viele davon Doppel- oder Triplekonzerte) fanden dort statt, fast durchgängig außergewöhnliche Experimente, vom Solo des niederländisch-rumänischen Bratschers Georghe Dimitriu "Monk On Viola" bis zur großformatigen Fusion des italienischen Underground-Sextetts Ghost Horse mit dem Rapperkollektiv Kill The Vultures aus Minneapolis. Dimitriu war auch bei einem der Highlights dort dabei, dem Trio Black Sea Songs mit der grandiosen türkisch-niederländischen Sängerin Sanem Kalfa und dem vor Kreativität platzenden belgischen Multiinstrumentalisten Joachim Badenhorst, dementsprechend einer der Festival-Lieblinge und -Stammgäste. Die Vermischung osmanischer Melodien mit Elektronik und Jazz-Improvisation hätte verkopft und anstrengend geraten können, bezauberte aber stattdessen mit seiner Zugänglichkeit und puren Schönheit.
Brückenschlag nach München hat Tradition
Ein Projekt, das perfekt zum diesjährigen, die bisherigen Länder- oder Regionen-Schwerpunkte erweiternden Motto "Stromaufwärts" passte. Das nämlich ist inzwischen wohl das wichtigste Anliegen des Festivals: Der Brückenschlag zwischen Musikern, Veranstaltern und Publikum, musikalisch wie menschlich; von Südtirol aus nach ganz Europa, vor allem in die Nachbarregionen wie das österreichische Tirol oder das deutsche Oberbayern. So gibt es schon lange Kooperationen mit dem Jazzinstitut der Münchner Musikhochschule und dem Münchner Jazzclub Unterfahrt, genauso wie mit dem Kulturreferat München, das alljährlich das Gastspiel einer Münchner Band sponsert. Die Jazzrausch Bigband, LBT oder zuletzt SiEA etwa waren schon da, heuer durfte nun Fazer ran, das Quintett des Bassisten und Masterminds Martin Brugger mit Paul Brändle an der E-Gitarre, dem Trompeter Matthias Lindenmayr und den beiden Schlagzeugern Sebastian Wolfgruber und Simon Popp.
Das Besondere dieser Band ist die fast meditative Ruhe, die über den von eben gleich zwei Ausnahmedrummern mächtig angetriebenen Klanggebirgen zwischen Ambient, Jazz und Elektro liegt. Was auf der Wiese vor der Feltuner Hütte in 2046 Meter Höhe ebenso eindrucks- und effektvoll war wie tags darauf im Garten des Bozener Parkhotels Laurin, wo dann sogar "München TV" einen Beitrag drehte. Dort schafften es übrigens gut 50 Interessierte nur noch auf die Warteliste, das Interesse war also wie bei den meisten Konzerten enorm. Das war nicht immer so, aber die Konsequenz, mit der Widmann und das Festival den eingeschlagenen Weg weitergingen, hat schon seit einigen Jahren Früchte getragen - und auch Corona hat dem offenbar keinen Abbruch getan. Das zeigt vorbildlich, dass man mit einem langen Atem vieles erreichen kann, auch ohne auf große Namen, Populistisches oder Quotenmusik zu setzen.