Tierfotografie:Auf Falter fixiert

Lesezeit: 5 min

Helmut Stahl erinnert sich mit Schauern an die Zeit zurück, da er Schmetterlinge aufspießte und in Schaukästen ausstellte. Längst ist er nur noch mit der Kamera unterwegs. Die Geschichte einer Kehrtwende.

Von Armin Greune, Starnberg

Kein anderer Schmetterling nimmt eine so bedeutende mythologische Rolle ein: Schon Jahrhunderte, bevor er im Thriller "Das Schweigen der Lämmer" als Sinnbild des Bösen herhalten musste, galt der Totenkopfschwärmer als Unheilsbote. In Helmut Stahls Biografie spielt der riesige Nachtfalter keine derart dramatische, aber doch eine besondere Rolle. Die beiden sind sich zwei Mal begegnet - einmal als Feind und einmal als Freund. Dazwischen liegen bald 70 Jahre, in denen der Söckinger Faltern stets besonderes Interesse entgegenbrachte. Doch anstatt sie wie in seiner Jugend zu töten und auf Nadeln zu spießen, hält sie Stahl seit vielen Jahrzehnten nur noch mit der Kamera fest.

Natürlich hat der hoch gewachsene 78-Jährige noch andere Steckenpferde, um das Pensionistendasein auszufüllen. Da sind in erster Linie Frau und Kinder sowie der Schäferhundrüde Ali Baba, den Stahl als vollwertiges Familienmitglied ansieht. Mit ihm verbringt er viele Stunden auf Spazier- und naturkundlichen Erkundungsgängen, wobei er sich nicht nur Tag- und Nachtfaltern widmet. So stattet er etwa auch der Raistinger Storchenkolonie regelmäßige Besuche ab.

Distelfalter

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(Foto: N/A)

Manchmal Massengast Auch wenn sie manchmal wie 2019 in rauen Massen nach Deutschland einfliegen - dauerhafte Heimat der Distelfalter sind eigentlich nur subtropische Steppen und Mittelmeerraum. Die Schmetterlinge bevorzugen - wie die namensgebende Futterpflanze - trockenes Gelände. Die Raupen sind bei der Futterwahl wenig wählerisch.

Zitronenfalter

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(Foto: N/A)

Überlebenskünstler Mit körpereigenem Frostschutz im Blut übersteht er selbst minus 20 Grad: Zitronenfalter überwintern frei in der Natur und erreichen mit zwölf Monaten die höchste Lebensdauer aller heimischen Schmetterlinge. Die Art scheint zurückzugehen, wohl weil Faulbaum und Kreuzdorn als Futterpflanzen seltener geworden sind.

Kaisermantel

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(Foto: Helmut Stahl/oh)

Nobles Fell Biologisch gesehen ist der größte mitteleuropäische Perlmutterfalter tatsächlich adeliger Abstammung: In der wissenschaftlichen Klassifikation gehört er der Familie der Edelfalter an. Die Raupen beweisen ein feines Näschen: Sie speisen Veilchen. Als eher profane Art ist der Kaisermantel im Alpenvorland relativ häufig.

Windenschwärmer

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(Foto: N/A)

Rekord-Raupe Der Nachtfalter gilt als größter mitteleuropäischer Schmetterling, die Raupe wird bis zu zwölf Zentimeter lang. Nur der Totenkopfschwärmer erreicht hierzulande ähnliche Ausmaße. Beide Arten sind nur in den Tropen und Subtropen ständig verbreitet, aber gelegentlich nördlich der Alpen als Wanderfalter anzutreffen. Fotos: Helmut Stahl

Das Faible für Schmetterlinge wurde Stahl zwar nicht in die Wiege gelegt, entpuppte sich aber schon im Grundschulalter. Hauptverantwortlich dürfte die "außergewöhnliche Erfahrung eines gemeinsamen Interesses mit meinem Vater" gewesen sein - der habe ansonsten ein eher distanziertes Verhältnis zum Sohn gepflegt, sagt Stahl. Er erinnert sich, wie er als neun oder zehn Jahre alter Bub im Familienurlaub an der Adria die Aufgabe hatte, "alle Leuchten und Lichtquellen morgens und abends mit dem Schmetterlingsnetz zu inspizieren". Den sensationellen Fund des gespenstischen Nachtfalters mit der Totenkopfzeichnung auf der Brust hat er immer noch geradezu plastisch vor Augen: Der riesige Schwärmer saß neben einer Neonröhre im Damenwaschraum des Zeltplatzes.

Der Fang wurde wie alle anderen mit Benzin oder Äther getötet und mit feinen Nadeln fixiert. Nach dem vollständigen Trocknen - das Wochen dauern kann - steckt der Schmetterlingssammler alter Schule das Präparat auf ein Klötzchen in den Schaukasten. Dazu ein Etikett, das exakt über die Art, Fundort und -datum Auskunft gibt: Oft bloß naturwissenschaftliches Deckmäntelchen für ungezügelte Sammelwut, wie sie jahrhundertelang Adel und Bildungseliten vorbehalten war.

Vom Vater lernte Stahl aber nicht nur früh, wie aus Wildfängen Trophäen werden. Schon Anfang der 1950er Jahre bot der Handel Eier und Puppen exotischer Großschmetterlinge zum Versand an. Der Sohn erinnert sich, dass daheim einmal sechs Raupen aus bestellten Eiern aufgepäppelt werden sollten, dazu hatte sein Großvater "ein echtes Kunstwerk" von Raupenkasten aus Holz und Zinkblech gefertigt. Leider erwiesen sich die Tiere als sehr empfindlich, insbesondere kurz nach der Häutung durften sie keinesfalls berührt werden. "Letztlich ist bei jeder Häutung eine der Raupen gestorben, die letzte hat sich zwar im Boden verpuppt, aber ein Schmetterling ist nicht geschlüpft".

Wenn das doch geschehen wäre, hätte dem Imago eh nur eine geringe Lebenserwartung bevorgestanden: Sammler töten die Tiere möglichst rasch, bevor sich die ersten Schuppen von den Flügeln lösen, denen der Falter die Farben verdankt. Manchen, die sich in der Erde verpuppen, musste man eine Aufstieghilfe im Zuchtkasten zum Entfalten anbieten, damit sie nicht am Boden verkrüppelten, weiß Stahl noch.

Mit Beginn des Jurastudiums in Würzburg lag sein Interesse an der Lepidopterologie, der Schmetterlingskunde, erst einmal brach. Doch als jungen Familienvater packte ihn die Sammelleidenschaft wieder. Da gab es Urlaube mit Frau und zwei Kindern, in denen er "immer auf der Pirsch und nie ohne Netz unterwegs war", blickt er zurück. Abends auf der Terrasse der Ferienwohnung installierte Stahl dann mit einer Höhensonne auf dem Tisch eine Lichtfalle und schnappte sich - in direkter Konkurrenz mit Fledermäusen - die an einem aufgespannten Laken auffliegenden Nachtfalter. Und so manches Reiseziel wurde vor allem unter dem Aspekt ausgewählt, dass dort vielleicht so rare und attraktive Arten wie der schon vor Jahrzehnten streng geschützte Apollofalter anzutreffen sein könnten.

Heute schaudert es Stahl ein wenig, wenn er sich an diese Zeiten erinnert. "Irgendwann war mir dann mal die Natur zu schade dafür, mit 40 war alles endgültig vorbei." Zwar müssten in dem Haus, das er seit mehr als 40 Jahren bewohnt, vielleicht fünf oder sechs Schaukästen voller Präparate stecken, "aber ich weiß gar nicht mehr, was ich noch auf dem Dachboden habe." Seinen ersten und wohl auch schönsten Kasten mit dem Totenkopfschwärmer bewahrt er verborgen an der Rückwand im Kleiderschrank auf. Statt sich mit seinem kleinen Naturkundemuseum vor Besuchern zu brüsten, "will ich gar nicht mehr das Signal aussenden, diese Tiere seien disponibel".

Ähnlich wie so mancher Pelzmantelbesitzerin oder vielen Sammlern lebend gefangener Muscheln ist Stahl der vor 40 Jahren noch unbefangene Umgang mit nur wegen ihres Dekorationswerts getöteten Wildtieren unheimlich geworden. Dafür gewann ein anderes, auch schon im Elternhaus gepflegtes Hobby die Oberhand: der Umgang mit der Kamera, in seinem Fall vor allem die Naturfotografie. 542 Tierbilder hat er aktuell auf dem Handy, er sei "im Grunde ein Knipser geblieben", findet Stahl bescheiden.

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Aber mit seiner mehr als drei Kilogramm schweren Ausrüstung und dem Tele, das eine Brennweite von 200 bis 500 Millimeter aufweist, kann er sich ganz nah an Schmetterlinge heranzoomen: "Abstand halten ist der Trick - komme ich mit dem Handy, fliegt er in neun von zehn Fällen weg." Seine Fotos könne man dennoch nicht mit der Arbeit von Berufsfotografen vergleichen: "Man darf sich als Laie nicht die Freude verderben lassen, wenn man die Tierbilder von Profis sieht". Die Zeit, die sie aufwenden, geht ihm meist ab, die Touren sind ja vor allem dazu gedacht, Ali Baba den nötigen Auslauf zu verschaffen. Stahl kann sich nur an den Wurf von Fuchswelpen erinnern, für den er einmal länger auf der Lauer gelegen ist.

Der Totenkopfschwärmer ist ihm nach Jahrzehnten noch einmal begegnet

Zuletzt hatte er als Jurist am Schulrecht-Referat des Kultusministeriums gearbeitet. Zuvor sei er "als Beamter stets in Bewegung geblieben", er durchlief alle Ebenen vom Landratsamt bis zur Staatsregierung. Auch viele Jahre nach dem Pensionseintritt reicht ihm die Zeit kaum für seine übrigen Interessen. Stahl hat jahrzehntelang in einem Streichquartett musiziert und war Turniertänzer. Als er vor fünf Jahren sein letztes Spiel für die Ü 40 des SV Germering bestritt, war er 73 und mit Abstand der älteste aktive Basketballer Bayerns. Noch immer gibt er ein Lehrwerk zur Schulrechtskunde heraus und trägt Bilder und Beobachtungen zu Walter Schöns Homepage www.schmetterling-raupe.de bei.

Gemeinsam mit seiner Frau engagiert sich Stahl auch seit vier Jahren im Landesbund für Vogelschutz. Das Futterhäuschen im Söckinger Garten wird das ganze Jahr über bestückt - nicht ganz uneigennützig, lockt das doch auch potenzielle Fotomotive an. Das häusliche Grün möchte er "im Laufe der Zeit ganz auf Ökologie umstellen", der Kirschlorbeer wird nach und nach durch insektenfreundlichere Sträucher ersetzt.

Kann er, der die heimische Fauna seit Jahrzehnten im Blick hat, Insektensterben und Artenschwund bei Schmetterlingen bestätigen? Am massenhaften Insektensterben hegt Stahl keine Zweifel, schließlich fordert die globale Industrialisierung der Landwirtschaft enormen Tribut. Im Fünfseenland aber findet er "noch relativ viele Flächen, auf denen insektenmäßig viel los ist". Und dort wachse auch das Bewusstsein für die Schätze der Natur: "Bei vielen Bauern merkt man das Gespür und den Wunsch, aus diesem Streifen mache ich etwas."

Totenkopfschwärmer stoßen Quietschlaute aus und dringen in Bienennester ein, um sich am Honig zu laben. (Foto: imago)

Doch sein Blick auf den zwei täglichen Touren mit Ali Baba sei selektiv, über Wiesen mit Einheitsgras blickt er hinweg. "Die innere Genugtuung verschiebt die Wahrnehmung", im Gedächtnis bleiben punktuelle Beobachtungen. Etwa, dass sich die Kaisermäntel heuer oft blicken ließen oder einem der Schillerfalter zwei, drei Mal über den Weg geflattert ist. Und natürlich der Riesenraupenfund: Dass er nach fast 70 Jahren noch einmal dem Totenkopfschwärmer begegnet, hätte er nicht zu hoffen gewagt. Die auffällige Art, die eigentlich aus Afrika und dem südlichsten Europa stammt, ist in Deutschland auf jeden Fall immer seltener geworden: Noch in den 1950er Jahren fielen die Raupen in so großen Scharen über ostdeutsche Kartoffeläcker her, dass sie abgesammelt wurden. Und auch der Falter war nicht beliebt: Er dringt unbehelligt in Bienenstöcke ein, um dort Honig zu saugen.

Zwei Wochen lang hat Stahl "seine" Raupe auf einer Tollkirsche bei Unering besucht und dabei ihr Wachstum fotografisch dokumentiert. Dabei konnte er der Versuchung mühelos widerstehen, sie nach Hause mitzunehmen und wie in alten Zeiten zu hoffen, dass aus der Puppe ein Falter schlüpft.

© SZ vom 25.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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