Ornithologie:Der Vogel-Versteher aus Seewiesen

Lesezeit: 7 min

Manfred Gahr ist einer der führenden Ornithologen in Deutschland. (Foto: MPI für biologische Intelligenz)

Manfred Gahr leitet das Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen und beschäftigt sich sein Forscherleben lang schon mit dem Gesang von Amsel, Drossel, Fink und Star. Warum werden manche Meistersinger, andere nur Mittelmaß?

Von Martina Scherf, München

Manfred Gahr zieht einen grünen Kittel über und betritt vorsichtig die Voliere. Die Zebrafinken schwirren und zirpen um seinen Kopf herum, hübsche Vöglein mit roten Schnäbeln und orange-farbenen Backen. Gahr bleibt ruhig in der Mitte stehen. "Hören Sie, da singt einer", sagt er plötzlich und dreht den Kopf zur Seite. "Der da hinten, sehen Sie ihn?" Unter zwei Dutzend Stimmen hat er den Sänger herausgehört. Alles andere ist offenbar nur Gezwitscher und Palaver, aber kein Gesang. Gahr, Direktor des Max-Planck-Instituts in Seewiesen, gehört zu den führenden Ornithologen in Deutschland, und er ist ein Vogel-Versteher.

Jetzt, im Frühjahr, zwitschert es wieder von Bäumen und Dächern. Ein Zeichen, dass die Natur zum Leben erwacht. Aber warum singen Vögel überhaupt? Wer gibt den Ton an? Und was haben sie sich zu sagen? Da ist zum einen die Brautschau, sagt Gahr, die Männchen wollen sich als gesunde, potente Partner präsentieren. Zum anderen stecken sie ihr Territorium akustisch ab: Dieser Baum gehört mir. "Ist das erst einmal geklärt, werden Grenzen von den Nachbarn respektiert", erklärt der 63-Jährige. "Und Ende Juni geht dann den meisten das Testosteron aus, dann hören sie mit dem Singen wieder auf."

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Ganz still wird es trotzdem nicht, denn in der Vogelschar wird weiter kommuniziert, als Paar, Familie oder in Gruppen. Hormone, Muskel- und Gehirnaktivität, all das hängt mit dem Gesang zusammen. Wie genau, mit diesen Fragen verbringen die Wissenschaftler und ihre Helfer an dem idyllischen Forschungsstandort zwischen Starnberger und Ammersee Jahrzehnte.

Seit zwei Jahren unterstützen sie auch Biotopia, das Team des künftigen Naturkundemuseums in München. Dort läuft jetzt im Frühling wieder das Dawn-Chorus-Projekt. Interessierte Laien sind eingeladen, in den frühen Morgenstunden das Vogelkonzert mit dem Handy aufzunehmen und auf der Dawn-Chorus-Plattform hochzuladen. Einige tausend Menschen haben bisher schon daran teilgenommen. So ein Citizen-Science-Projekt kann zum einen dazu dienen, Daten über das Vorkommen bestimmter Vogelarten an einem Ort zu sammeln. Zum anderen lernen Menschen dadurch, auf die Natur zu hören. Amsel, Drossel, Fink und Star - wer wohnt da vor meiner Haustür, wer ist Frühaufsteher, wer Langschläfer, wer singt im Duett?

Solche Projekte mit Hilfe von Laien sind erst hilfreich, wenn man langfristige Daten hat, sagt Gahr. "Man muss immer wieder zur selben Zeit am selben Ort messen." Je mehr Menschen aber mitmachen, je länger das Projekt läuft, desto verlässlicher werden die Ergebnisse. Gelänge es, auf diese Weise ein akustisches Bio-Monitoring für eine bestimmte Region aufzubauen, "wäre das natürlich eine klasse Idee." Dann kann man anhand des Vogelkonzerts Rückschlüsse auf die Biodiversität ziehen.

Manfred Gahr greift in einen der Nistkästen und holt drei Baby-Zebrafinken heraus, nicht größer als sein kleiner Finger. Sie wurden mit Farben markiert, um sie beim Aufwachsen unterscheiden zu können. Die Forscher interessiert, wie die Jungen das Singen lernen. Und warum manche Meistersinger werden, andere dagegen nur Mittelmaß.

Bei jedem Küken wird erfasst, wann das Ei gelegt wurde und wann der Schlupftag war. Um sie unterscheiden zu können, werden die Küken mit einem Tupfer Lebensmittelfarbe markiert. (Foto: MPI für biologische Intelligenz)

Den typischen Gesang lernen nur die Söhne von ihren Vätern, sagt Gahr. Aber Männchen und Weibchen verständigen sich mit angeborenen Rufen in der Gruppe. Sie sind monogam, Eltern bleiben meist ein Leben lang zusammen - Seitensprünge eingeschlossen. Aber nicht alle Söhne lernen von ihren Vätern, "manche suchen sich andere Vorsänger aus", erklärt Gahr, während er die Kleinen vorsichtig wieder ins Nest zurücklegt. Das Ganze ist also ziemlich kompliziert.

Die Biologen fanden heraus, dass ein bestimmtes Protein im Gehirn der Zebrafinken die Lernfähigkeit erhöht, ähnlich wie bei Mäusen. "Da bettelt einer", unterbricht sich Gahr jetzt selbst und dreht sich um, "da oben, der zweite von rechts auf dem Ast." Er kann das alles unterscheiden, das Betteln, das Balzen, das Werben und Drohen.

Es gibt Vögel, die täuschen und tricksen

Es gibt etwa 10000 Vogelarten auf der Welt, fast die Hälfte davon sind Singvögel. Während in unseren Breiten meist nur die Männchen singen, trällern in den Tropen auch die Vogeldamen schöne Lieder. Und jedes Individuum hat seine eigene Stimme, wie beim Menschen. Es gibt Vögel, die täuschen und tricksen, indem sie fremde Stimmen imitieren; einige lernen ständig neue Laute und variieren ihren Gesang; manche Arten wie die Buchfinken "sprechen" regionale Dialekte; und andere produzieren virtuose Gesänge, die an Opernarien erinnern. Nicht umsonst ließen sich Musiker schon immer vom Vogelgesang inspirieren.

Das Institut für Ornithologie in Seewiesen, an dem einst Konrad Lorenz das Verhalten der Graugänse studierte, ist Anfang des Jahres mit dem Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried fusioniert worden. Zusammen heißen sie jetzt Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz. Es sei sinnvoll, sagt Gahr, neurobiologische, genetische und ökologische Forschung zusammenzubringen. Manches lässt sich nur im Labor analysieren, wie das Wirken eines Proteins im Gehirn. Anderes, wie das Singen-Lernen, lässt sich am besten in der Natur beobachten. Mehr Austausch der Disziplinen kann also nur von Vorteil sein. Und ist nicht die ganze Evolution ein Prozess aus lernen, trainieren, speichern, anwenden, vererben oder weitergeben von Fähigkeiten?

Gahr wuchs in der Pfalz auf, "in meiner Kindheit verbrachte ich sehr viel Zeit im Wald", erzählt er. Er wollte dann Biologie- und Mathematiklehrer werden, aber als er nach dem ersten Staatsexamen das erste Mal vor einer Klasse stand, merkte er: "Das war nichts für mich." Er blieb an der Uni in Kaiserslautern und schrieb eine Doktorarbeit über den Einfluss östrogensensitiver Zellen auf den Gesang von Kanarienvögeln und Zebrafinken.

Nach vier Jahren als Nachwuchsforscher in den USA kam der Ornithologe 1993 das erste Mal als Forschungsgruppenleiter nach Seewiesen. Er habilitierte sich an der Ludwig-Maximilians-Universität, wurde als Professor an die Universität Amsterdam berufen, kehrte 2005 als Direktor nach Seewiesen zurück.

"Wie will man die Natur schützen, wenn man sie nicht mehr kennt?"

Beim Spaziergang über das Gelände, vorbei an den Volieren der ulkigen Kampfläufer mit ihren aufgestellten weißen Krägen und der gelben Kanarienvögel, zwitschert, zirpt und singt es von allen Wipfeln. Der Öffentlichkeit ist das Institut nicht zugänglich, außer an wenigen Tagen, wenn es Führungen gibt. Das Interesse ist jedes Mal groß. Trotzdem beobachtet Gahr, dass nicht nur Schulkinder, sondern auch Biologiestudenten oft eine Biene nicht mehr von einer Wespe, eine Meise nicht von einem Finken, eine Eiche nicht von einer Buche unterscheiden können. "Die Systematik wird an der Uni leider kaum noch gelehrt, diese Praktika fallen immer als erste aus", sagt er. Es gebe deutschlandweit immer weniger Lehrstühle für Zoologie. Stattdessen wüchsen neue Institute für Molekularbiologie aus dem Boden. "Das ist eine dramatische Entwicklung. Wie will man die Natur schützen, wenn man sie nicht mehr kennt?"

Zwei Zebrafinken: Nicht nur Schulkinder, auch Biologiestudenten können die verschiedenen Vogelarten kaum mehr erkennen, hat Manfred Gahr festgestellt. (Foto: Stephan Görlich/imago)

Als Direktor hat Gahr viel mit Verwaltung zu tun, mit Finanzierung von Forschungsprojekten, der Betreuung von Doktorarbeiten und Habilitationen. "Aber ich besuche meine Forscher noch immer gerne im Feld, egal, wo sie gerade sind." Zuhause in Bayern oder in Tansania, Südafrika, Chile. Eine Forschergruppe aus Seewiesen bewies, dass zu viel Straßenlärm Vögel stresst und sie dann nicht mehr so gut singen lernen. Eine andere beobachtete, dass Fregattvögel, die den Ozean überqueren, im Flug schlafen können, ohne abzustürzen. Das könnte auch für die menschliche Hirnforschung interessant sein, sagt Gahr. Die Gruppe "Vogelschlaf" will ihre Versuche jetzt auf Wasservögel ausdehnen. Schlafen sie beim Paddeln? Zu diesem Zweck sind - zum ersten Mal seit Konrad Lorenz' Zeiten - wieder Gänse in Seewiesen eingezogen, Kanadagänse, genauer gesagt.

Bei all den hochspezialisierten Detailfragen eines Wissenschaftlers sollte man sich aber das Gespür für die Natur bewahren, sagt Gahr. Tagelang mit Fernglas und Mikrofon im Zelt auf der Lauer liegen, den Wind spüren, die Flugbahnen beobachten, das Stimmengewirr hören, wissen, welche Gefahren drohen. Weil sie sich in Afrika, Asien oder Amerika nicht so gut auskennen wie in der heimischen Fauna, arbeiten die Ornithologen dort meist mit lokalen Partnern zusammen. "Die kennen ihre Tiere besser als wir. Und je mehr man dann weiß, desto mehr wird einem klar, wie komplex das Verhalten der Tiere ist." Und dass der Mensch noch viel zu lernen hat.

Nicht jeder Vogel macht da aber einfach so mit. In den Anden wollten sie Kolibris fangen, um sie für Gesangsbeobachtungen zu beringen. Patagona gigas, "faszinierende kleine Tiere." Kolibris sind Gahrs Lieblingsvögel. Doch die blitzschnellen Flieger wichen auch großen Netzen jedes Mal geschickt aus. "Wir haben noch keinen einzigen fangen können", sagt Gahr und lacht.

Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz

Das Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz widmet sich der Grundlagenforschung zu Themen der Verhaltensökologie, Evolutionsforschung und Neurowissenschaften. Rund 500 Mitarbeitende aus mehr als 50 Nationen untersuchen, wie sich tierische Lebewesen Wissen über ihre Umwelt aneignen, wie sie es speichern, anwenden und weitergeben, um komplexe Probleme zu lösen und sich an eine ständig verändernde Umwelt anzupassen - so gesehen ist längst nicht nur der Mensch ein intelligentes Wesen. Das Institut ist eine Fusion der beiden Max-Planck-Institute für Neurobiologie in Martinsried und für Ornithologie in Seewiesen. Formal wird sie erst Anfang 2023 vollzogen, beide Standorte bleiben bestehen. Während in Seewiesen vor allem verhaltensbiologische Feldforschung betrieben wird, dreht sich in Martinsried im Münchner Süden alles um Neurobiologie, also um Laborversuche, die Prozesse in Nerven und Gehirn beobachten, vor allem bei Mäusen, Zebrafischen und Taufliegen. Es gibt sieben Direktoren für sieben Abteilungen, gemeinsam leiten sie das Institut. Geschäftsführender Direktor ist derzeit der Hirnforscher Professor Tobias Bonhoeffer in Martinsried. Der Standort Martinsried, unweit des Klinikums Großhadern, wird in den kommenden Jahren zusammen mit dem MPI für Biochemie zu einem modernen Life Science Campus ausgebaut.

Das Projekt Dawn Chorus

Im ersten Corona-Lockdown, im Frühjahr 2020, als der Verkehr zum Erliegen kam und die Welt eine ungewohnte Stille erlebte, startete Biotopia, das Planungsteam des künftigen bayerischen Naturkundemuseums, das Dawn-Chorus-Projekt. Interessierte Bürgerinnen und Bürger waren aufgerufen, den Vogelchor in der Morgendämmerung mit ihren Handys aufzunehmen und die Dateien auf einer eigenen Plattform hochzuladen. Möglichst immer am selben Ort zur selben Zeit. Tausende machten mit. In diesem Jahr ist der Bayerische Vogelschutzbund (LBV) als Projektpartner eingestiegen, es gibt eine eigene App. Ziel ist es, anhand der Tonaufnahmen die Vogelvielfalt über Jahre hinweg zu dokumentieren. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts in Seewiesen begleiten das Projekt. Weltweit sammeln Menschen auf diese Art jetzt Vogelstimmen, die Ergebnisse kann jeder nachhören, mit Orts- und Zeitangaben ( https://dawn-chorus.org/ ). Wer wissen will, wann welcher Vogel in Bayern singt, findet auf der Homepage des Bundes Naturschutz eine hübsche animierte Vogeluhr ( https://www.nabu.de/downloads/6-grafiken/vogeluhr ).­

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