S-Bahn-Kollision:Gemeinschaftliche Krisenbewältigung

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Zwei S-Bahnen der Linie 7 sind am 14. Februar 2022 in der nördlichen Einfahrt des Bahnhofs Ebenhausen-Schäftlarn frontal zusammengestoßen. Aus der ganzen Region waren Helfer im Einsatz. (Foto: Hartmut Pöstges)

Zwei Jahre nach der tödlichen S-Bahn-Kollision bei Ebenhausen wird der Lokführer zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Wie der Unfall Helfer, Betroffene und Anwohner in Schäftlarn bis heute prägt.

Von Veronika Ellecosta, Schäftlarn

Das Unglück begann mit einem lauten, dumpfen Knall. Zwei S-Bahnen waren an einem Nachmittag im Februar vor zwei Jahren auf dem einspurigen Gleis zwischen Ebenhausen und Hohenschäftlarn kollidiert. Ein junger Mann verlor sein Leben, 51 Menschen wurden verletzt. Zwei Jahre später wird der Lokführer Richard Z. am Amtsgericht München zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Der 65-Jährige soll sich als Fahrer der von Wolfratshausen kommenden S-Bahn über Haltesignal und Zwangsbremsungen hinweggesetzt haben. Während der Verhandlung bricht Richard K. immer wieder in Tränen aus und beteuert, keine Erinnerungen an die Geschehnisse des 14. Februars 2022 zu haben.

Nach dem Knall ging das Leben in Schäftlarn weiter, die Gleise wurden repariert und tragen fortan wieder täglich die roten Waggons landauf und -abwärts. Bei manchen Menschen hat der Prozess gegen den Lokführer nun wieder Erinnerungen aufgewirbelt, geblieben sind außerdem Demut und Dankbarkeit auf der einen Seite - aber auch Fragen nach dem Zufall und Überlegungen im Konjunktiv.

Matthias Buck, stellvertretender Feuerwehrkommandant: mit offenen Armen empfangen

Mathias Buck war als Abschnittsleiter der Freiwilligen Feuerwehr Hohenschäftlarn für den verunglückten Zug aus Wolfratshausen im Einsatz. (Foto: Freiwillige Feuerwehr Hohenschäftlarn/oh)

"Natürlich redet man immer wieder über größere Einsätze, aber ins Bild kam dieser Einsatz bei mir erst durch den Prozess und die Fotos in der Zeitung so richtig wieder. Wie beim 11. September weiß jeder in meinem Umfeld genau, was er zu dem Zeitpunkt des Unfalls gemacht hat. Ich selbst war gerade in der Feuerwehr, weil ein Techniker für die Atemschutzmasken da war. In Erinnerung geblieben ist mir der erste Blick nach vorn in den Wagen, das war surreal. Der zweite Blick fiel leider auf die tödlich verletzte eingeklemmte Person. Das bleibt im Gedächtnis.

Für die Kommune war es ein prägendes Ereignis, ich habe schon den Eindruck, dass es nachgehallt hat. Ich glaube, dass der tolle Zusammenhalt in Erinnerung bleibt. Nachbarn haben Decken gereicht, Unterschlupf gegeben, Getränke verteilt. Der örtliche Metzger hat während des Einsatzes, der ja zwei bis drei Stunden gedauert hat, einen Stand aufgebaut und Würstchen und Leberkäse ausgegeben. Essen ist gut für die Seele. Man hat uns mit offenen Armen empfangen, das gibt einem Auftrieb."

Elke Soellner, Pfarrerin in Ebenhausen: bleibende Angst vor Hubschraubergeräuschen

Elke Soellner ist als evangelische Pfarrerin auch Seelsorgerin. Sie wohnt in der Nähe der S-Bahn-Gleise. (Foto: Privat/oh)

"Damals war der Unfall ein großer Schock, aber wir haben uns als Kirchengemeinde durchgearbeitet und viele Messen gehalten. Bei mir ist die Angst vor Hubschraubergeräuschen geblieben. Dass es mehr werden, wie damals. Und ich setze mich in der S-Bahn nicht mehr in den ersten Wagen, das habe ich auch von anderen gehört. Ich nehme auch bewusster wahr, dass man nicht alles in der Hand hat und sich einfach in die S-Bahn setzt, ohne zu denken, wer in der Fahrerkabine sitzt. Bei den jüngsten Bahnstreiks habe ich auch darüber nachgedacht, ob da jemand neun Stunden arbeitet und keine Pause hat und überlastet ist. Darauf habe ich heute einen anderen Blick."

Ines Lobenstein, Sozialpädagogin in Wolfratshausen: Wie wenig Spuren ein Mensch hinterlassen kann

Ines Lobenstein koordiniert ehrenamtlich den Asylhelferkreis Wolfratshausen. Dort war sie auch in die Betreuung des jungen Mannes aus Afghanistan involviert, der bei der Kollision ums Leben kam. (Foto: Hartmut Pöstges)

"Der junge Mann hat die Flucht aus Afghanistan geschafft und hier ist er gestorben. Da denke ich mir: Eine Familie schickt ihren Sohn aus Afghanistan los und sagt, schau, dass du ein gutes Leben hast. Und dieses Leben wird dann ausgelöscht. Wir konnten herausfinden, dass er Familie in Hamburg hat, aber bisher keine Entschädigung geflossen ist. Da wartet und wartet man und sitzt das aus und am Ende gibt es vielleicht keine Entschädigung. Ich frage mich, warum das bei uns so lange dauert.

Ich arbeite täglich mit Geflüchteten und immer kommen neue an, sodass man so einen Menschen leicht vergisst. Das ist tragisch, wie da ein Mensch verschwindet. Wir haben so viele Lebende hier, das Rad dreht sich weiter. Mich erschreckt schon, dass ein Mensch so wenig Spuren hinterlassen kann.

Ich denke, dass man jeden Unfall auf sich bezieht. Wenn ein Flüchtling zu mir kommt, ich ihn wegschicke und ihm passiert etwas, würde ich mich fragen, was geschehen wäre, hätte ich ihn nicht weggeschickt. Da macht man sich schon Gedanken."

Ingo Ruber, Metzger: von Vorschrift und Gemeinschaft

"In Erinnerung habe ich das S-Bahn-Unglück weniger, aber immer, wenn man hinausschaut und eine S-Bahn sieht, hat man ein mulmiges Gefühl. Selbst verschwende ich in der S-Bahn keinen Gedanken daran, dass etwas passieren könnte. Man hat sowieso keinen Eingriff darauf.

Ich war an jenem Nachmittag zu Hause, da hat mich eine Kollegin angerufen und gesagt, ich soll schnell in die Metzgerei kommen, es sind zwei S-Bahnen zusammengestoßen und es gibt ein großes Tohuwabohu. Ich bin schnell hinübergefahren und habe geschaut, dass die was Warmes zu essen kriegen. Wir haben an dem Abend das komplette Kühlhaus geleert und 500 Leute versorgt. Am nächsten Tag sind wir in die Stadt gefahren und haben Nachschub besorgt.

Im vergangenen Jahr haben wir die Metzgerei neu eröffnet und wollten dafür eine Schanklizenz. Wir haben sie nicht bekommen, weil der Bahn zwei unserer Parkplätze zu nahe an der Rückstauzone von den Bahnschranken waren. Die Frau von der Bahn hat gesagt, sie arbeiten nach Vorschrift. Beim S-Bahn-Unfall hat ein ganzes Dorf zusammengearbeitet und wir haben die versorgt, die arbeiten. Wenn ich wo helfen kann, werde ich das immer tun. Ich finde es schade, wie das mit der Bahn ausgegangen ist."

Christian Fürst, Bürgermeister: ein Rettungsapparat wie ein Zahnrad

Christian Fürst leitet seit 2020 die Geschicke der Gemeinde Schäftlarn. (Foto: Hartmut Pöstges)

"Ich war an dem Nachmittag für eine Besprechung im Rathaus und habe das Fenster geöffnet, um zu lüften. Man hat einen Knall und Scheppern bis in mein Büro gehört. Kurz darauf bekam ich eine Meldung auf der Feuerwehrapp und dann fuhr auch schon die Feuerwehr Hohenschäftlarn vorbei. Da habe mich ins Auto gesetzt und mich über den Schulberg von hinten angepirscht. Die Ortswehren waren schon da, ich habe mich bei der Einsatzleitung gemeldet und mir ein Bild vor Ort gemacht. Es war bewegend zu sehen, wie ein ganzes Dorf, Ebenhausen, zusammengeholfen hat, die Anrainer und die Rettungskräfte aus dem Ort und dem weiten Umkreis. Der Abend bleibt mir insgesamt durch die Masse an Rettungskräften und die Hilfsbereitschaft im Dorf in Erinnerung. Für mich war das positive Fazit, dass der Rettungsapparat wie ein Zahnrad funktioniert hat.

Heute habe ich nicht mehr den Eindruck, dass man noch groß darüber redet. Ich glaube, dass es für die Menschen im Zug oder in unmittelbarer Nähe präsenter war. Oder auch für den Asylhelferkreis Wolfratshausen, wo man den jungen Verstorbenen persönlich kannte. Wenn ich unten an der Stelle vorbeifahre, denke ich manchmal, es hätte mehr passieren können. Der Zug lag nahe am Hang, er hätte auf die Bundesstraße abrutschen können. Da war ein Schutzengel im Spiel, wie man so sagt."

Stefan Scheifele, Pfarrer in Schäftlarn: als gemeinschaftliche Krisenbewältigung fest verankert

Pfarrer Stefan Scheifele ist auch als Seelsorger für die katholische Gemeinschaft zuständig. (Foto: Claus Schunk)

"Was mich berührt am Prozess: die Reue und das Nicht-erklären-Können des Lokführers. Und ich frage mich, ob man davor selbst geschützt ist oder ob mir so was auch passieren kann, zum Beispiel im Straßenverkehr.

In der Seelsorge ist das Unglück schon lange kein Thema mehr. Ich sehe, dass das Erlebnis als gemeinschaftliche Krisenbewältigung gut verankert ist. Sobald man die Erfahrung macht, wenn wir zusammenhalten, können wir jede Krise bewältigen, kann man so etwas ad acta legen."

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