"Da kommt mir ein Zug entgegen, Scheiße", schreit Triebwagenführer Simon S. über Funk. Dann hört der Kollege am anderen Ende nur noch lautes Hupen, einen ohrenbetäubenden Knall, dann Stille. Fast genau zwei Jahre ist es her, dass bei Schäftlarn zwei S-Bahnen auf der eingleisigen Strecke kollidierten. Ein Fahrgast starb, 51 Insassen wurden verletzt. Jetzt sitzt der 56 Jahre alte Richard Z. vor dem Amtsgericht München und schluchzt. "Ich weiß nicht, wie mir das passieren konnte", sagt der ehemalige Lokführer, und dass er sich nicht daran erinnern könne, wie es dazu kam, dass er mehrere Brems- und ein Haltesignal missachtet hatte.
Drei Verhandlungstage hat das Gericht unter dem Vorsitz von Richterin Nesrin Reichle für den Prozess anberaumt, das Schöffengericht kann eine Freiheitsstrafe von bis zu vier Jahren verhängen. Und gleich zum Prozessauftakt erklärt Verteidiger Stephan Beukelmann, bei seinem Mandanten seien alle Erinnerungen gelöscht. "Er erkennt alle technischen Gutachten an, der alleinige Fehler liegt bei ihm." Der Tod und die Verletzungen anderer Menschen hätten seinem Mandanten psychisch stark zugesetzt, er sei nach der Katastrophe wegen Suizidgefahr in stationärer Behandlung gewesen. "Erst jetzt hat er eine neue Arbeit als Briefzusteller aufnehmen können."
Die Staatsanwaltschaft wirft dem ehemaligen Lokführer vor, dass er an jenem Unglückstag, dem 14. Februar 2022, mehrere Warnsignale missachtet habe. Richard Z. startete die S7 gegen 16.30 Uhr am S-Bahnhof in Wolfratshausen gen München. Er sei an diesem Tag die Strecke schon dreimal gefahren, sagt Z. in der Verhandlung. Er habe sich gut gefühlt, vor der Abfahrt noch eine Breze gegessen, es sei ein schöner Tag gewesen. Überhaupt sei Lokführer sein Traumberuf gewesen. "Es gibt nichts Schöneres, als am Morgen eine S-Bahn zu übernehmen und die Stadt aufwachen zu sehen." Seinem Ausbilder nach sei der Quereinsteiger ein Musterschüler gewesen, "fast Klassenbester".
Bereits bei der Anfahrt auf den S-Bahnhof Ebenhausen-Schäftlarn allerdings war Z. zu schnell unterwegs. Den Ermittlungen zufolge wurde er deshalb von einem automatischen Überwachungssystem ausgebremst. Normalerweise hätte Z. nun Kontakt mit dem Fahrdienstleiter aufnehmen und seine mündliche Zustimmung für die Weiterfahrt einholen müssen. Das tat er nicht. Dass man mal das Tempo überschreite und keine Rücksprache halte, "das kommt vor, da bin ich nicht der Einzige", behauptet er. Ihm sei das ein- bis zweimal im Monat passiert. Binnen eines halben Jahres sei der Angeklagte zwölfmal registriert worden, weil er wegen überhöhter Geschwindigkeit gebremst worden sei. "Das", sagt der zuständige Teamleiter, "ist unterdurchschnittlich".
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Er sei die Strecke später sogar zu Fuß abgelaufen, erzählt der Angeklagte, aber es komme keinerlei Erinnerung. Dann sagt er, dass das Einfahrsignal auf 45 Kilometer pro Stunde gestanden sei, er dachte, er sei Tempo 46 gefahren. Deshalb habe er sich aus der Zwangsbremsung befreit. Ob diese Aussage auf den Tag des Unglücks zu beziehen ist, bleibt offen.
An den Bahnhöfen verfahre er immer so: Er warte auf das grüne Licht, das die Weiterfahrt signalisiere, dann stehe er auf, schaue aus dem Fenster, ob alle Türen geschlossen seien, setze sich hin, schaue erneut auf das Ausfahrtsignal, und dann fahre er los. So ist Richard Z. an jenem Tag nicht vorgegangen, "und ich weiß nicht, warum", sagt er.
Normalerweise hätten sich die S-Bahn von Richard Z. und die entgegenkommende von Simon S. am S-Bahnhof in Icking gekreuzt. "Das hat mich gewundert", sagt Z. "Normalerweise steht sie da oder fährt gleichzeitig ein." Später von Rechtsmediziner Matthias Eppler befragt, erklärt Z., dass das nicht auf den Tattag bezogen gewesen sei, er könne sich auch an Icking nicht erinnern. Jedenfalls hatte die aus München kommende S7 an diesem Tag zehn Minuten Verspätung. Die S-Bahnen sollten sich nicht in Icking, sondern erst in Ebenhausen begegnen.
Trotz eines roten Ausfahrtsignals setzte Richard Z. am Bahnhof Ebenhausen seinen Zug in Bewegung. Es folgte eine erneute Zwangsbremsung. Diesmal hätte sich der Lokführer beim Fahrdienstleiter melden und auf eine schriftliche Freigabe warten müssen - weil er ein Haltesignal überfahren hatte. Eine Verfehlung, die auch disziplinarische Maßnahmen nach sich gezogen hätte. Doch auch darüber setzte sich Z. hinweg. Er befreite sich selbst per Knopfdruck aus der Zwangsbremsung - so ist das System der S-Bahn ausgelegt. Laut einer Polizistin war Z. auch nicht von mit seinem Handy abgelenkt.
Der Lokführer muss nach hinten in den Waggon geflüchtet sein
Etwa fünf Sekunden lang sah Simon S., der auf der Strecke zwischen Hohenschäftlarn und Ebenhausen zwangsgebremst worden war, die Bahn von Richard Z. auf sich zurasen. Nach Erkenntnissen von Ermittlern muss Richard Z. vor der Kollision vom Führerstand aus nach hinten in den Waggon geflüchtet sein. Simon S. wurde bei seinem Rettungsversuch in eine kleine Nische geschleudert, "das hat mir wohl das Leben gerettet".
Für einen 24 Jahre alten Fahrgast, der im ersten Waggon der S-Bahn nach München saß, kam jede Hilfe zu spät. Das Todesopfer, ein Afghane, lebte seit 2016 in Deutschland, er sei "bildungshungrig und wissbegierig gewesen", wie eine Frau des Poinger Helferkreises sagt. Dass sein Aufenthalt in Deutschland gestattet wurde, hat er nicht mehr erfahren. 51 Fahrgäste wurden außerdem zum Teil schwer verletzt. Simon S. erlitt 14 Knochenbrüche. "Es tut mir so leid", sagt Richard Z. schluchzend. "Ich bin mir sicher, Du hast es nicht absichtlich gemacht", antwortet der ehemalige Kollege.
Zur Person von Richard Z. wird am ersten Verhandlungstag nur bekannt, dass er gelernter Dreher ist, in seinem Heimatort mit seiner Firma insolvent ging und in München neu anfangen wollte. Über seine psychische Verfassung vor dem Unfall ist nichts bekannt. Der Prozess dauert an.