Wie funktioniert Erinnerung heute? Wenn immer mehr Zeitzeugen aus den Jahren des nationalsozialistischen Terrors sterben. Wenn Menschen davor zurückscheuen, sich durch geschichtliches Faktenwissen zu fressen oder Gedenkorte zu besuchen. "Die Wirkungsmacht des Digitalen ist von immenser Bedeutung für Museen heute", sagt Mirjam Zadoff, die Direktorin des Münchner NS-Dokumentationszentrums. Mit "Departure Neuaubing - Europäische Geschichten der Zwangsarbeit" hat das Dokuzentrum nun einen spannenden Schritt in der digitalen Welt getan, es vermittelt Geschichte künstlerisch und erzählerisch in einer interaktiven, frei zugänglichen Web-App. Und trifft mit dieser Form, so hoffen Zadoff und Kuratorin Juliane Bischoff, vor allem auch die Lebensrealität der jüngeren Generation.
Das ehemalige Zwangsarbeiterlager des Reichsbahnausbesserungswerks in Neuaubing ist eines der wenigen einst so zahlreichen Lager, das noch erhalten ist. 7000 halb verhungerte, erschöpfte Zwangsarbeiter wurden zu Kriegsende 1945 dort gezählt. In einigen der acht Baracken an der Ehrenbürgstraße 9 haben sich Künstler und auch soziale Einrichtungen wie die Pädagogische Kinder- und Jugendfarm angesiedelt - und sie sollen auch dort bleiben. Zwei der Baracken werden als Erinnerungsort mit Ausstellungen und Programm gestaltet, als eine Dependance des NS-Dokuzentrums am äußersten westlichen Stadtrand, wo mit Freiham ein riesiger moderner Stadtteil wächst. Dieser neuen Nachbarschaft widmen sich Fabian Bechtle und Leon Kahane in ihrem Beitrag zur App, einer Nachbarschaft, die kein Gegenüber, sondern ein Miteinander wird, wie Paul-Moritz Rabe, der Leiter des künftigen Erinnerungsortes, sich ausmalt.
Insgesamt sechs Künstler und Künstlerinnen, der SZ-Journalist Alex Rühle, Spieleentwickler und Medienpädagoginnen haben sich für "Departure Neuaubing" aus ganz unterschiedlichen Perspektiven mit dem Ort, seiner Geschichte und den bis in die Gegenwart reichenden Auswirkungen beschäftigt. Die Künstlerin Hadas Tapouchi hat 30 der mehr als 400 Orte im Münchner Stadtgebiet, an denen Massenunterkünfte für Zwangsarbeiter standen, fotografisch erkundet - heute sind es ganz gewöhnliche Wohn-, Arbeits- oder Erholungsstätten, die nichts mehr verraten über ihre düstere Vergangenheit. Münchner, die noch Bilder aus dieser Zeit haben, können diese übrigens einspeisen.
Eine "Visual Novel" erzählt die Leidensjahre eines Bewohners interaktiv
Ebenfalls fotografisch nähert sich Sima Dehgani dem ukrainischen Dorf Jewmynka, beinahe alle Bewohner sind 1943 zur Zwangsarbeit verschleppt worden. Nach Kriegsende kehrten die meisten zurück - doch ihr Leben war niemals wieder wie zuvor. Hier findet sich der transnationale Ansatz, den das Erzählprojekt parallel zum lokalen verfolgt. "Denn die Geschichte der NS-Verbrechen ist eine europäische Geschichte", unterstreicht Mirjam Zadoff. Teile der App sind deshalb auch ins Ukrainische und ins Italienische übersetzt. Jedem Beitrag ist auch ein Glossar angefügt, zum tieferen Einsteigen in erwähnte Begriffe.
Die wohl ungewöhnlichste Umsetzung gilt dem Buch "Jan Bazuin. Tagebuch eines Zwangsarbeiters", das im Februar erscheinen wird. Das Studio Paintbucket Games hat die Leidensjahre des 19-jährigen Niederländers in Neuaubing als sogenannte Visual Novel entwickelt, als interaktives Spiel, in dem die Nutzer sogar ein Stück weit Entscheidungen mit beeinflussen können.
Von diesem Samstag, 22. Januar, an, können Besucher über Tablet-Stationen im Foyer des NS-Dokuzentrums am Max-Mannheimer-Platz 1 durch die App wandern. Begleitend zur digitalen Erzählung wird es auch viele, teils analoge Angebote geben: Vorträge, Diskussionen, eine Comic- und eine Fotowerkstatt, eine Lehrer-Fortbildung sowie Workshops für Schulen. Das Programm und Terminhinweise finden sich unter www.nsdoku.de.