Münchner S-Bahn-Desaster:Söder war frühzeitig gewarnt

Lesezeit: 3 Min.

Ein Zug der S-Bahn München fährt an der Baustelle der zweiten S-Bahn-Stammstrecke entlang. Das Neubau-Desaster soll nun Gegenstand eines Untersuchungsausschusses werden. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Bayerns Verkehrsministerium präsentiert dem Landtag eine Chronologie zur zweiten Stammstrecke. Daraus geht hervor: Der Regierungschef wusste seit Juli 2020, dass der Bau sich um Jahre verzögern könnte.

Von Klaus Ott

Ministerpräsident Markus Söder (CSU) schaut bei der zweiten Stammstrecke der Münchner S-Bahn lieber nach vorne statt zurück. Aber der Rückblick wird ihm jetzt, nach einer Sondersitzung des Landtags, nicht mehr erspart bleiben. Wie das Parlament am Montag von Verkehrsminister Christian Bernreiter (CSU) erfuhr, war Söder persönlich seit mehr als zwei Jahren darüber im Bilde, dass sich die Inbetriebnahme der zweiten Stammstrecke drastisch verschieben könnte. Söder und seine Regierung haben aber weder den Landtag noch die Öffentlichkeit informiert, sondern die Menschen im Großraum München im Ungewissen gelassen.

Bernreiter präsentierte dem Verkehrsausschuss des Parlaments, wie von der Opposition seit Längerem gefordert, erstmals eine umfangreiche und detaillierte Chronik des Milliardenprojekts. Dieser mündlichen Chronik zufolge war das Verkehrsministerium bereits im November 2019 von eigens eingeschalteten Fachleuten gewarnt worden, dass sich die Fertigstellung der neuen Tunnel von 2028 auf 2033 verschieben könnte. Nach einigem Hin und Her mit der Deutschen Bahn, sie baut die zweite Stammstrecke, wurde Regierungschef Söder Ende Juli 2020 von der damaligen Verkehrsministerin Kerstin Schreyer (CSU) darüber informiert.

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Gut zwei Monate später, am 1. Oktober 2020, soll Söder in seinem Regierungskabinett Schreyer dann aufgefordert haben, ein Konzept für das Großprojekt vorzulegen. Die Bahn hatte damals in der Zwischenzeit selbst eingeräumt, dass die ersten Züge wohl erst Ende 2034 durch die neuen Tunnel fahren würden. Und dass die Kosten von 3,8 auf 5,2 Milliarden Euro steigen könnten. Darüber wiederum wurde laut Bernreiters Chronik Söders Regierungszentrale, die Staatskanzlei, am 9. Oktober 2020 informiert. Ende 2020 habe es dann weitere Informationen aus dem Verkehrsministerium für die Staatskanzlei gegeben.

Falls die Regierung weiter mauert, soll es einen Untersuchungsausschuss geben

Diese Chronik ist politisch deshalb von Bedeutung, weil die Staatsregierung erst vor gut drei Monaten, Mitte 2022, das sich seit Langem anbahnende Desaster erstmals öffentlich gemacht hatte. Der inzwischen zum Verkehrsminister berufene Bernreiter erklärte, die Inbetriebnahme könne sich bis 2037 verzögern. Und die Baukosten könnten von den lange Zeit genannten 3,8 auf 7,2 Milliarden Euro steigen. Die Deutsche Bahn (DB), die den Freistaat und die Stadt München jahrelang hinhielt, hat diese Befürchtungen kürzlich bestätigt.

Das Staatsunternehmen DB geht jetzt offiziell von Kosten zwischen 7 und 7,8 Milliarden Euro aus. Fertig werden soll die zweite Stammstrecke laut Berechnungen der Bahn zwischen 2035 und 2037. Sollte irgendwer im Großraum München noch gehofft haben, dass sich der Bau der zweiten Stammstrecke irgendwie doch beschleunigen ließe, dann hat Verkehrsminister Bernreiter auch hier jetzt für eine ernüchternde Klarheit gesorgt. "Eine Beschleunigung ist nicht möglich", sagte Bernreiter im Landtag.

Die mündliche Chronik des Verkehrsministers, die dem Landtag auch noch schriftlich vorgelegt werden soll, sorgt in Oppositionskreisen für erheblichen Unmut. Sebastian Körber von der FDP, er leitet den Verkehrsausschuss, warf der Regierung nicht nur vor, der Öffentlichkeit das Desaster verschwiegen zu haben. Zudem sei das Parlament falsch informiert und offenkundig sogar "belogen" worden. Etliche Anfragen des Landtags zur zweiten Stammstrecke seien von der Regierung mindestens fehlerhaft, wenn nicht sogar falsch beantwortet worden.

Es sei versucht worden, das Desaster zu "vertuschen", sagte Körber. Er sprach von einer "groben Missachtung des Parlaments" und kündigte an, dass man nachhaken und für Transparenz sorgen werde. Das gelte auch für den Ministerpräsidenten. "Wir werden Söder nicht aus der Verantwortung entlassen." Der Abgeordnete Markus Büchler von den Grünen forderte die Staatsregierung auf, endlich alles auf den Tisch zu legen. Und fragte: "Bekommen wir diese Informationen erst in einem Untersuchungsausschuss oder vorher?" Grüne, SPD und FDP haben sich offenbar bereits weitgehend auf einen U-Ausschuss verständigt, falls die Regierung aus Sicht der Ampel-Opposition weiterhin zumindest noch teilweise mauere.

Bernreiter erwiderte, Bauherr der zweiten Stammstrecke sei die Deutsche Bahn. Die Zahlen, die das Ministerium von der eigenen Baubegleitung bekommen habe, seien Grobschätzungen gewesen. Und den Vertretern der Bahn habe man "sprichwörtlich alles aus der Nase ziehen" müssen. Die Bahn habe dem Ministerium teilweise sogar Informationen vorenthalten. Den Vorwurf, das Parlament sei falsch informiert oder oder sogar belogen worden, wies Bernreiter zurück. "Bei mir gibt's keine Vertuschung."

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