Dolkun Isa weiß nicht, wie oft er in seinem Leben verhaftet worden ist. Er muss da kurz nachdenken. Da war Frankfurt 1999, Seoul 2009, Rom 2017, und ... die Zählung endet bei "sieben, vielleicht acht Mal", Dolkun Isa muss lachen. Als wäre das eine amüsante Sache, dass da einer der mächtigsten Staaten der Welt hinter ihm her ist. Denn für die chinesische Regierung ist Dolkun Isa ein Terrorist.
Doch bisher ist er noch jedes Mal freigekommen. Und so kann Isa, angegraute Haare, wacher Blick, in einem Hotelzimmer im kanadischen Halifax sitzen, per Skype telefonieren und später am Tag eine Rede beim Halifax International Security Forum halten - einer Konferenz, zu der bedeutende Politiker, Unternehmer und Wissenschaftler aus aller Welt anreisen.
In dieser Rede soll es um Tibet gehen und um Hongkong. Vor allem aber will Isa über die Uiguren reden, eine Ethnie, die der chinesische Staat in dem autonomen Gebiet Xinjiang systematisch unterdrückt. Dolkun Isa, 52, ist Präsident des Weltkongresses der Uiguren mit Sitz in München, und damit ist seine Stimme eine der wichtigsten für die im Exil lebenden Uiguren: Er erzählt von ihrem Leid auf der internationalen Bühne, spricht mit Regierungen, vor den Vereinten Nationen, der Europäischen Union.
Deswegen wollen die Chinesen Isa unbedingt fassen. 21 Jahre lang haben sie ihn bei Interpol mit einer sogenannten Red Notice zur Fahndung ausgeschrieben - und er wurde auch immer wieder festgenommen. Seit 2017 hat sich die Lage der Uiguren enorm verschlechtert. Mehr als eine Million Menschen werden laut Experten in Umerziehungslagern festgehalten. Die Uiguren sollen ihre Sprache vergessen, ihre Religion, ihre Kultur. Isa nennt das "die größte Gräueltat des 21. Jahrhunderts". Die aktuellen Veröffentlichungen der China Cables belegen, dass die chinesische Regierung Uiguren in kaum vorstellbarem Ausmaß überwachen und beim geringsten Anlass in Straflager deportieren lässt, wo sie einer Gehirnwäsche unterzogen werden. "Die Beweise sind eindeutig und für alle sichtbar", sagte Isa am Montag der SZ. "Die chinesische Regierung hat die Wahrheit über die Lager immer geleugnet. Ihr Narrativ ist widerlegt."
Isas Frau sagte: Geh!
Dolkun Isa stammt aus Aksu, einer Stadt in Xinjiang. Die Sommer dort sind heiß, die Winter klirrend kalt. Der Vater arbeitete als Agraringenieur, die Mutter in einem Einkaufszentrum. Als Student begann Isa, sich politisch zu engagieren. Er demonstrierte für die Demokratisierung Xinjiangs, er gründete eine Organisation, deren Mitglieder ungebildeten Uiguren das Lesen und Schreiben beibrachten - und er lernte früh, dass Aktivismus in China nicht folgenlos bleibt. Im letzten Semester wurde er der Universität verwiesen. Er zog nach Peking, eröffnete ein uigurisches Restaurant, verdiente Geld. Als er sich mit ausländischen Studenten anfreundete, um sein Englisch zu verbessern, wurde die Polizei misstrauisch. Seine Frau, damals im dritten Monat schwanger, sagte: Geh!
Also floh Isa 1994 in die Türkei, 1996 kam er nach Deutschland, nach München. Hier haben sich in den 70er-Jahren die ersten Uiguren im Westen angesiedelt. Der US-Sender Radio Liberty, der während des Kalten Krieges die Länder im Herrschaftsgebiet der Sowjetunion mit Informationen versorgte, hatte hier seinen Hauptsitz - und ein uigurisches Programm. Seitdem gilt München als politisches Zentrum der Exil-Uiguren, rund 700 ethnische Uiguren leben hier, insgesamt sind es etwa 1500 in Deutschland. Kurz nach seiner Ankunft, Frau und Tochter waren inzwischen nachgereist, gründete Dolkun Isa den World Uyghur Youth Congress. Acht Jahre später, im April 2004, entstand der Weltkongress der Uiguren (WUC), die Dachorganisation für 32 uigurische Gruppen in 18 Ländern. Delegierte wählen den Vorsitz auf drei Jahre, Isa ist seit 2017 der Präsident.
Der WUC organisiert Demonstrationen, kulturelle Feste und unterstützt Uiguren auf der Flucht. In München haben sie außerdem einen Auto-Anhänger 120 Meter vom chinesischen Generalkonsulat entfernt geparkt, darauf stehen die Kernforderungen des Weltkongresses: Freiheit, Menschenrechte und Demokratie für die Uiguren. Es ist eine kleine Provokation auf Rädern.
Welche Chance hat man gegen einen Gegner, der so viel Einfluss hat und so wenig Skrupel?
Dolkun Isa sagt, er sei optimistisch. "Es gibt positive Zeichen. Die Leute wissen heute viel mehr über die Situation der Uiguren als früher." Internationale Medien berichteten häufiger, China habe die Existenz der Lager einräumen müssen. Ein erster Schritt sei das. Der zweite wäre es, dass Staaten den Druck auf China erhöhten und sich westliche Unternehmen aus der Region zurückzögen. Das ist eher noch nicht der Fall.
Der Weltkongress der Uiguren befindet sich in einem schmucklosen Bau im Münchner Bahnhofsviertel, im dritten Stock über dem Haarstudio Paradiso. Peter Irwin schließt die Tür auf, sie ist aus Glas. An der Decke hängt eine Kamera, aber Irwin weiß nicht, ob sie funktioniert. Um die Sicherheit des Hauptquartiers sorge er sich nicht, sagt er. Nur seit einmal ein Mann, offenbar ein Chinese, mit einem Smartphone in der Hand hereinspaziert ist, bitten sie die Hausverwaltung, die Eingangstür geschlossen zu halten.
Irwin betritt einen schmalen Flur. An der Wand hängen 38 Porträts mit kurzen Texten. Da ist Abahun Sopur, Vater von vier Kindern, 2009 verschwunden auf dem Nachhauseweg. Oder Gülmire Imin, Administratorin einer Internetplattform, zu lebenslanger Haft verurteilt, weil sie Demonstrationen mitorganisiert haben soll. Oder Ilham Tohti, Professor für Wirtschaftswissenschaften, der 2019 den Václav-Havel-Menschenrechtspreis und den Sacharow-Preis bekam: ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilt.
"Sobald es persönlich wird, wird es hart", sagt Irwin, 29. Der Kanadier arbeitet seit fünf Jahren für die Organisation, er ist eine von fünf Vollzeitkräften. Und weil er naturgemäß am besten Englisch spricht, hat er die Rolle des WUC-Sprechers übernommen. Die Schicksale einzelner Uiguren versuche er gedanklich wegzuschieben, sagt Irwin. Sonst könne er sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Für Uiguren sei das anders: "Ihr Kampf ist persönlich."
Vor einem Jahr starb Dolkun Isas Mutter in einem der Internierungslager. Er weiß nicht, woran sie starb oder warum sie eingesperrt worden war. Er weiß auch nicht, ob der Vater, fast 90, noch lebt. Er weiß nicht, was mit seinen Brüdern und seiner Schwester passiert ist und den anderen Verwandten. Dolkun Isa sagt, dass die meisten Uiguren im Exil mit dieser Unsicherheit leben müssten, weil aus Xinjiang fast nichts nach draußen dringt.
Warum gibt es keinen Aufschrei? Wo bleiben die Proteste der internationalen Staatengemeinschaft? Wo die Sanktionen?
Peter Irwin glaubt, dass schlicht zu viel passiere auf der Welt, worüber sich die Menschen Sorgen machten. Xinjiang sei weit weg. Man habe keine internationale Symbolfigur wie es in Tibet eine gibt, keinen Dalai Lama, mit dem sich Prominente fotografieren lassen und der Teil der Popkultur geworden ist. "Als wir 2014 bei den Vereinten Nationen unseren Fall vortrugen, wussten sehr wenige über die Situation der Uiguren Bescheid", sagt Irwin.
Das hat sich geändert, auch weil sich die Lage dramatisch verschlechtert hat. Vor wenigen Tagen berichtete die New York Times darüber, wie China sein Überwachungssystem aufzieht. Der Bericht stützt sich auf interne Dokumente aus dem chinesischen Regierungsapparat. "Das ist der ultimative Beweis", sagt Isa. Niemand könne mehr sagen, er habe von nichts gewusst. Und dann sind da die China Cables, jene Geheimdokumente, die belegen, wie die Uiguren vom chinesischen Staat systematisch in Lager gesperrt werden.
Am Montag ist Isa nach Genf gereist. Er will beim UN-Forum für Wirtschaft und Menschenrechte Diplomaten treffen. In Genf wurde er 2005 verhaftet. Damals wurde Isa nach einer Demonstration vor dem UN-Gebäude festgenommen und auf ein Polizeirevier gebracht. Fünf Stunden lang befragten ihn die Polizisten. Was er in China getan habe, warum er in Genf sei. Warum sie ihn mitnahmen, sagten sie nicht. Auf SZ-Anfrage erklärte die Kantonspolizei, zu Einzelfällen keine Stellung zu nehmen - es werde aber jede Person darüber informiert, warum sie bei der Polizei sei.
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Als Isa zurück war in Deutschland, schrieb er an die Schweizer Regierung, er wolle den Grund für seine Festnahme wissen. Die Antwort, so erzählt er es, sei erst Monate später gekommen. Es habe einige Missverständnisse gegeben. Isa sei jederzeit willkommen. Genf sei schließlich die Hauptstadt der Menschenrechte.
Ob er sich sicher fühlt? Gerade schon, sagt Isa. Seit 2006 ist er deutscher Staatsbürger. Deutschland habe ihm 2009 geholfen, als er in Seoul wirklich in der Klemme steckte. Die Chinesen forderten seine Auslieferung, die Bundesregierung hielt dagegen. Zwar bekomme er manchmal seltsame E-Mails und Anrufe, die ihn beleidigen oder ihm mit dem Tod drohten. Aber ja, er fühle sich sicher. Isa sagt: "Wir sind bereit, jeden Preis zu zahlen."