Armut in München:Die "größte Wohlfahrtsaktion" der Stadt

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Bedürftige warten auf die kostenlose Ausgabe von Lebensmitteln am Westtor der Großmarkthalle an der Thalkirchner Straße. (Foto: Florian Peljak)

Die Münchner Tafel verteilt seit 25 Jahren kostenlos Lebensmittel. Inzwischen nutzen mehr als 20 000 bedürftige Menschen das Angebot.

Von Sven Loerzer

Die Idee stammt aus Amerika: In New York hatten Bürger 1982 die Organisation City Harvest gegründet, um Lebensmittel vor der Vernichtung zu retten. In einem Land, wo Menschen auf Wohltäter angewiesen sind, weil die staatlichen Sicherungssysteme für Menschen, die kein oder nur ein geringes Einkommen haben, nur rudimentär ausgebildet sind, begann City Harvest, Überbestände an Lebensmitteln, die sich bis zum Ablauf der Haltbarkeit nicht mehr verkaufen lassen, an Bedürftige zu verteilen. Diese Idee griff 1993 die "Initiativgruppe Berliner Frauen" auf. Mit Privatautos sammelten die Frauen bei Händlern Lebensmittel ein, um sie an Obdachlose zu verteilen - daraus entstand die Berliner Tafel.

Eine Zeitungsnotiz darüber brachte Münchner Frauen, die sich sozial engagieren wollten, 1994 auf den Gedanken, es auch zu versuchen. 25 Jahre später kann sich die Münchner Tafel selbstbewusst als "größte Wohlfahrtsaktion" in der Landeshauptstadt bezeichnen.

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Dabei waren die Anfänge recht bescheiden, wie sich eine der Mitgründerinnen, die Tafel-Vorsitzende Hannelore Kiethe, erinnert. "Ich bin in einem sozial eingestellten, liberalen Elternhaus aufgewachsen. Als die Kinder aus dem Haus waren, wollte ich mich sozial engagieren." Zusammen mit Gleichgesinnten gründete sie einen Verein, den sie zunächst "Tischlein deck dich" nannten. Vom Großmarkt sammelten die Frauen mit Privatautos überschüssige Lebensmittel ein, um sie an Bedürftige zu geben unter dem Motto "Verteilen statt vernichten".

Hannelore Kiethe musste aber feststellen, dass da auch viel Unbrauchbares dabei war, "wir waren für die Händler ein gefundenes Entsorgungsunternehmen". Nach einem halben Jahr und einem Lernprozess auf beiden Seiten funktionierte die Zusammenarbeit immer reibungsloser. Schon bald gehörten die Händler der Großmarkthalle mit zu den wichtigsten Unterstützern der Tafel. "Interessanterweise sind sehr viele ausländische Firmen darunter", sagt der Unternehmer Claus Hipp, der die Tafel selbst als Sponsor seit 24 Jahren unterstützt.

Seine Mutter, erzählt er im Presseclub, habe sich nach dem Krieg um Flüchtlinge gekümmert, "Suppen gekocht und mit dem Leiterwagen zu den Baracken gefahren". Da habe er mitbekommen, "wie Not riecht". Auch Gabriela von Habsburg, seit zehn Jahren Schirmherrin der Tafel wie zuvor ihre Mutter, hat schon als "kleine Arbeitsbiene" bei der Tafel mitgemacht, um "auf direkte Art und Weise die Not zu lindern".

7000 Kinder zählen zu den Gästen der Tafel

Im Hasenbergl richtete die Tafel ihre erste Ausgabestation im Winter 1996 ein, vor der Kirche "Mariä Sieben Schmerzen". Die ersten Bedürftigen, die sich einfanden, waren noch misstrauisch. Aber Hannelore Kiethe und ihrem Team gelang es, das Vertrauen zu gewinnen. Und schon bald, 1997, führte die Tafel Ausweise für ihre Gäste ein: Jeder muss seine Bedürftigkeit nachweisen, um an einer der inzwischen 27 Ausgabestellen einmal pro Woche Lebensmittel kostenlos zu erhalten. 650 ehrenamtliche Helfer verteilen Woche für Woche mit 18 großen Kühlfahrzeugen 120 Tonnen Lebensmittel aller Art, von der Babykost über Obst und Gemüse bis hin zu Brot und Molkereiwaren. Die Tafel sammelt dazu bei Händlern und Handelsketten qualitativ einwandfreie Nahrungsmittel, "wir kriegen heute die Ware früher".

Bedürftigen Menschen werde so gesunde Ernährung und gesellschaftliche Teilhabe im teuren München ermöglicht. "Wir sind kein Ersatz für staatliche Sozialhilfe, aber wir schenken unseren mehr als 20 000 Tafel-Gästen ein Stück Lebensqualität", sagt Hannelore Kiethe. Denn mit dem staatlich zugestandenen Existenzminimum, 424 Euro monatlich für Alleinstehende zuzüglich Miete und Heizkosten, "kann man keine großen Sprünge machen". Wer mit diesem Budget auskommen müsse, könne sich einen Besuch im Konzert, im Theater, im Kino oder im Café nicht leisten.

Die Gäste der Tafel, darunter auch 7000 Kinder, kämen aus allen Schichten, es seien auch "viele Menschen darunter, die nie gedacht hätten, dass sie um Hilfe bitten müssen". Zwei Drittel der Gäste seien alt und krank oder alleinerziehend. Deutlich gestiegen sei die Zahl der Tafelgäste mit der Umstellung von der D-Mark auf den Euro, sagt Hannelore Kiethe. "Einen ganz großen Sprung", ein Plus von 40 Prozent, verzeichnete die Tafel mit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005. "Danach ging das systematisch hoch."

Obwohl auch die Münchner Tafel heute sehr viel mehr ausländische Gäste hat als noch in den ersten Jahren, kam es nie zu Problemen wie etwa bei der Essener Tafel, die vorübergehend einen Aufnahmestopp für Migranten verhängte. Denn die Ausgabe in den Stadtteilen hat die Münchner Tafel sehr professionell organisiert. "Es gibt keine chaotischen Zustände", betont Kiethe. Manchmal gebe es Wartelisten für eine Ausgabestelle, "aber Härtefälle nehmen wir sofort rein in die Versorgung".

Alte Menschen, die mit ihrer Rente nicht auskommen, weisen die Tafel-Mitarbeiter schon mal auf die aufstockende Leistung der Grundsicherung hin und schicken sie zum Sozialamt. Aus der Politik aber hält sich die Tafel bewusst raus: "Wir sind ein reiner Hilfsverein für Menschen, die Hilfe in schwieriger Situation benötigen", betont Kiethe.

© SZ vom 26.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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