Literatur:Schlachtfeld der Triebe

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Sätze zerfetzend: Cathrin Störmer liest in der Villa Stuck die Texte August Stramms. (Foto: Adrienne Meister)

Eine lyrisch-musikalische Intervention in der Villa Stuck macht die düsteren Gedichte August Stramms lebendig.

Von Jürgen Moises, München

Der Krieg, er findet nicht nur in der Ukraine statt. Er dringt in unsere Köpfe, kapert die Medien und schwappt auf die Bühnen. Deshalb könnte man auch " Stramm - Eine Intervention" in der Villa Stuck für eine Reaktion des als Veranstalter fungierenden Residenztheaters auf den Ukraine-Krieg halten. Denn nicht nur, dass der bedeutende expressionistische Dichter August Stramm als Reservehauptmann im Ersten Weltkrieg in Russland getötet wurde. Der hauptberufliche Postinspektor hat zudem das Grauen dieses ersten Maschinenkrieges höchst ausdrucksstark in eine neue, dafür angemessene Sprache gefasst.

Die eigentliche Intention des unter der Regie von Jan Höft entstandenen und im März noch vier Mal angesetzten Abends: die Lyrik des etwas in Vergessenheit geratenen Stramms in einer sprachlich-musikalischen Symbiose lebendig zu machen. Dafür hat Höft die Schauspielerin Cathrin Störmer und den in München lebenden Experimental-Musiker und Komponisten Valerio Tricoli auserkoren, denen diese Symbiose auch sehr eindrücklich gelingt. Die Bühne dafür: ein weißes und halb durchsichtiges Zelt, das sich irgendwann erhebt und in der Luft an eine Glocke erinnert. Darunter liest Cathrin Störmer sitzend oder stehend Stramms Texte, bevor sie erst streng am Stehpult und danach befreit von Jackett, Zopf und Brille zur durch den Raum schreitenden Performerin wird.

Valerio Tricoli schafft dazu dunkle, leicht beunruhigende Klänge, die aus einem alten Viertel-Zoll-Tonbandgerät von Revox und einem digitalen Musik-Player stammen und die er live manipuliert. Ein Verfahren, das er auf Alben wie "Miseri Lares" perfektioniert hat und das hier wie dort zu Hörspiel-artigen Erfahrungen führt. Manches könnte Regen sein, anderes Kriegsgewitter. Vieles bleibt aber auf eine stimmige Weise im Unklaren. Denn starke, sich geradezu einhämmernde Klänge und Bilder, die liefern Stramms Texte, die sich nicht nur um Krieg, sondern auch die Liebe drehen. Aber auch die erscheint hier wie ein Schlachtfeld der Triebe. Sätze und Syntax werden zerfetzt, in den Kriegsgedichten auch die Erde und die Leiber. Wie in einem fortwährenden Bewusstseinsstrom stürzen, klappern, brausen, surren, gurgeln einem die Wörter um die Ohren. Und man bekommt eine böse Ahnung, ein dumpfes Gefühl, was die Menschen im Krieg, in der Ukraine erleiden.

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