Rassismus und Menschenfeindlichkeit machen in München auch vor Kindern nicht halt. Im Gegenteil. Immer häufiger werden diese zur Zielscheibe rechter Übergriffe. Die Zahlen der Münchner Beratungsstelle "Before" sprechen eine erschreckende Sprache: 24 Kinder bis zwölf Jahre suchten vergangenes Jahr Beratung und Hilfe, nachdem sie zu Opfern rechter Gewalt in München geworden waren. Dazu 28 Jugendliche und junge Erwachsene. Die meisten Angriffe fanden im öffentlichen Raum statt - und im Wohnumfeld.
Before-Beraterin Anja Spiegler weist im Gespräch auf die stark gesunkene Hemmschwelle der Angreifer und Angreiferinnen hin. Während Übergriffe auf Eltern, die zusammen mit ihren Kindern unterwegs waren, oder auf kleinere Kinder selbst früher selten vorgekommen sind, können die Experten inzwischen oft das Gegenteil beobachten: Kinder werden zum Angriffsziel. "Mit Kinderwagen oder kleinen Kindern im öffentlichen Nahverkehr unterwegs zu sein, macht es Betroffenen fast unmöglich, sich einer bedrohlichen Situation zu entziehen", sagt Spiegler. Umso wichtiger sei es, dass Zeuginnen und Zeugen einschritten und Betroffenen zur Seite stünden, betont auch der geschäftsführende Before-Vorstand Siegfried Benker. Man müsse dafür kein Held sein - wichtig sei es aber, sich beispielsweise der Polizei als Zeuge zur Verfügung zu stellen.
Attacken auf Mütter mit Kindern
Zuletzt hat die Bundespolizei eine derartige Attacke auf eine Mutter mit Kind vom Pfingstsamstag gemeldet. Ein 50-Jähriger beleidigt in der S-Bahn eine 31-jährige Frau und deren neunjährigen Sohn rassistisch. Als eine andere Frau einschreitet, geht der Mann zunächst weg - um kurz darauf zurückzukommen und sich vor den Augen der 31-Jährigen und ihres Buben selbst zu befriedigen.
Im Oktober vergangenen Jahres berichtete die Münchner Gruppe der "Omas gegen Rechts" von einem Vorfall am Münchner Hauptbahnhof: Eine schwarze Frau mit Kinderwagen wird von einem Mann mit wüsten rassistischen Pöbeleien eingedeckt. Als sich eine der Omas dazwischen stellt, damit die Frau mit ihrem Kind gefahrlos die Rolltreppe nehmen und er ihr nicht weiter folgen kann, wird die Helferin angerempelt und beschimpft. "Dich sollte man enthaupten", habe der Mann gebrüllt, berichtet die Betroffene auf Twitter. "Keiner steht mir bei. Niemand sonst stellt sich ihm entgegen", schreibt sie. Ihr Fazit: "Zivilcourage: Kein Spaß in Deutschland."
Anstieg der Beratungsfälle um 15 Prozent
Insgesamt hat Before im Jahr 2022 in 359 Beratungsfällen Betroffene von rechter, gruppenbezogen menschenfeindlicher Gewalt und Diskriminierungen unterstützt. Diese Zahl zeige: "Ausgrenzung und Übergriffe sind auch in München ein großes Problem." Die Stadt sei keineswegs eine "Insel der Seligen", sagt Benker. Die Zahl der Beratungsfälle bei Before ist 2022 im Vergleich zum Vorjahr um rund 15 Prozent gestiegen. Insgesamt begleiteten die Mitarbeitenden der Einrichtung 465 Ratsuchende aus München, so viele wie noch nie innerhalb eines Jahres.
Zweimal musste sogar ein Beratungsstopp für weitere Hilfesuchende eingelegt werden. "Wir sind an unsere Grenzen gekommen", sagt Benker. Die steigende Zahl der Beratungsfälle und die hohe Dunkelziffer würden eigentlich zusätzliches Personal erfordern. In 149 Beratungsfällen war Rassismus das Tatmotiv. 33 dieser Attacken richteten sich gegen schwarze Menschen - auch das ein sprunghafter Anstieg gegenüber den Vorjahren.
Während die meisten Diskriminierungsfälle (58) am Arbeitsplatz stattfanden, ereignen sich rechte Gewalttaten überwiegend (82) im öffentlichen Raum. Jeweils an zweiter Stelle in der Before-Statistik steht jedoch der "Tatort" Wohnumfeld. Betroffene wurden von Nachbarn beschimpft, bedroht oder attackiert. Menschen, die Übergriffen im privaten Umfeld ausgesetzt sind, seien "gefangen in einer für sie äußerst belastenden und mitunter auch gefährlichen Situation", betonen die Fachleute. Anstatt in ihrem privaten Rückzugsraum geschützt zu sein, müssten sie Nachstellungen, Bedrohungen und Angriffe aushalten, müssten die tägliche Konfrontation fürchten und um ihre Sicherheit und die ihrer Familie bangen.
Wenn Rassismus als "Nachbarschaftsstreit" verharmlost wird
Oft finde eine regelrechte Schuldumkehr statt: Nicht die rassistischen Übergriffe würden thematisiert, sondern angebliches Fehlverhalten der Betroffenen. "Leider spielen Vermieterinnen und Vermieter und Hausverwaltungen diese Angriffe oft herunter und leugnen ihren gruppenbezogen menschenfeindlichen Hintergrund", stellen die Before-Experten fest. Dann würden solche Attacken als "Nachbarschaftskonflikte" dargestellt. Before appelliert deshalb an Wohnungsgesellschaften und Vermieterverbände, Anlaufstellen für Betroffene zu etablieren. Die städtische Wohnbaugenossenschaft Gewofag hat laut Spiegler eine derartige Ombudsstelle, mit der man sehr gute Erfahrungen gemacht habe.
Auch Angriffe auf Kinder fänden in Wohnanlagen und auf Spielplätzen statt. Für betroffene Familien müssten Vermieter, Hausverwaltungen und Behörden "dringend Unterstützung leisten und schnell an Lösungen arbeiten", fordert Before-Beraterin Anja Spiegler. "Familien hören auf, Spielangebote in Wohnanlagen zu nutzen und sind gezwungen, sich völlig zurückzuziehen", sagt Spiegler.
Wenn Betroffene in ihre Beratung kämen, hätten sie oft bereits einen langen Leidensweg hinter sich. Die Kinder hätten Angst- und Schlafstörungen entwickelt, die Eltern die rassistischen Beleidigungen zu verdrängen versucht - und manchmal sogar Übergriffe wie gezielte Sachbeschädigungen. "Ich habe versucht, das zu ignorieren", diesen Satz von Betroffenen rassistischer Attacken im Wohnumfeld höre sie immer wieder, sagt Spiegler. Siegfried Benker appelliert an die Münchner Stadtgesellschaft: "Daran dürfen wir uns nicht gewöhnen!"