Olympia 1972:Wie riskant die Spiele von München waren

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Um einen Blick in die Schwimmhalle werfen zu können, kletterten Zuschauer auf die Verstrebungen der Außenwand. (Foto: Baumann/imago)

Im Olympiastadion und in der Schwimmhalle herrschten 1972 zum Teil lebensgefährliche Zustände. Interne Dokumente enthüllen das ganze Ausmaß - und Pläne der Verantwortlichen, das Problem mit Schmierseife zu lösen.

Von Roman Deininger und Uwe Ritzer

Franz Beckenbauer geriet richtig ins Schwärmen: "Eigentlich dürfte man dieses Stadion nur mit Frack und Zylinder betreten." Am 26. Mai 1972 wurde das Münchner Olympiastadion mit einem Fußball-Länderspiel zwischen Deutschland und der UdSSR offiziell eröffnet, und am 28. Juni 1972 trug der FC Bayern sein erstes von 751 Heimspielen dort aus; das 5:1 gegen Schalke 04 bedeutete den dritten deutschen Meistertitel. In beiden Spielen stand Beckenbauer als Spieler auf dem Platz. Und ringsum waren die Tribünen voll.

So voll, dass Lokalzeitungen und viele Besucher über den Massenandrang grantelten. Den Organisatoren der bevorstehenden Olympischen Spiele war überhaupt nicht wohl bei der Sache. Zumindest denen, die für sichere Abläufe in den olympischen Wettkampfstätten sorgen sollten. Allen voran Wolfgang Hegels.

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83 Jahre alt ist Hegels heute, damals leitete der promovierte Jurist die Abteilung im Organisationskomitee der Spiele (OK), die für den Betreuungs- und Ordnungsdienst zuständig war. Wenn Hegels sich an München 1972 erinnert, dann nicht nur an die heiteren Spiele und das schreckliche Attentat. Sondern auch an die Angst vor einer drohenden Katastrophe, "die nur mit sehr viel Glück verhindert werden konnte", wie Hegels heute sagt.

Denn wovon die Öffentlichkeit damals und auch seither nichts erfuhr: "Vor allem das Olympiastadion und die Schwimmhalle waren zum Teil gefährlich überfüllt", sagt Hegels. Bislang vertrauliche Unterlagen, die der SZ vorliegen, offenbaren hanebüchene und durchaus lebensgefährliche Zustände - ein Szenario, bei dem man unweigerlich an das Unglück bei der Loveparade 2010 in Duisburg denkt.

"Einige Tausend Menschen mehr im Stadion, als dort hätten sein dürfen"

Gleich mehrfach schlugen Kontrolleure der Stadt München während der Olympischen Spiele Alarm. In ihren internen Einsatzberichten schilderten sie zum Teil chaotische Zustände. Von überfüllten Steh- und Sitzplatzrängen ist die Rede, von Zugängen und Fluchtwegen, die von Menschentrauben zugestellt waren. "Bei einem Zwischenfall hätte alles in eine unkontrollierbare Massenpanik münden können", sagt Hegels. "Die Fluchtwege konnten oft nicht freigehalten werden. Es gab Zeiten, da waren einige Tausend Menschen mehr im Stadion, als dort hätten sein dürfen."

Ursprünglich geplant für 80 000 Zuschauer, habe es im Olympiastadion faktisch nur Platz für maximal 75 000 Menschen gegeben, so Hegels. Die Olympia-Organisatoren hatten weit mehr Eintrittskarten - vor allem für Stehplätze - drucken und verkaufen lassen, als es Plätze gab. Hinzu kam, dass viele Besucher, die Tickets nur für den Vormittag etwa bei der Leichtathletik hatten, das Stadion nicht verließen, sondern auch am Nachmittag zuschauten, ohne Eintrittskarte. Niemand hinderte sie daran, sich so lange in Gängen und Toiletten aufzuhalten. Ein weiterer Faktor: Manche schmuggelten Leute ins Stadion, wie beispielsweise ein Lieferant der Verpflegungsstationen.

Bei der Schlussfeier gelangten selbst Personen ohne Eintrittskarte ins Stadion. Das Personal dort war überfordert und mit den Nerven am Ende. (Foto: Baumann/imago)

"Wir haben intern häufig geschätzt, dass bis zu 90 000 Menschen im Stadion seien", erinnert sich Ex-Abteilungsleiter Hegels. "Wir konnten nicht mehr eingreifen. Wenn die Leute erst einmal im Stadion sind, ist es zu spät." Die Menschenmasse wäre im Fall einer Panik nicht mehr zu steuern gewesen. Lautsprecherdurchsagen, doch wenigstens die Zu- und Abgänge zu den Tribünen und damit die Fluchtwege freizuhalten, verpufften nahezu immer wirkungslos.

Und noch ein Missstand trug ganz wesentlich zur Überfüllung bei. "Es waren viel zu viele Sonderausweise ausgegeben worden", sagt Hegels. An Hostessen zum Beispiel, an Bundeswehrsoldaten, die als Fahrer eingesetzt waren, oder an anderweitige Helfer, die man heutzutage Volunteers nennen würde. Gab es attraktive Wettbewerbe und sie hatten Zeit, strömten sie zusätzlich in die teilweise ohnehin schon ausverkauften Arenen. Und niemand hielt sie auf.

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Dabei hatte sich Hegels bereits nach den beiden Fußballspielen mit einem Brief an OK-Generalsekretär Hermann Reichart gewandt, zehn Tage vor der olympischen Eröffnungsfeier. "Zirka 7000 bis 8000 Personen" besäßen Arbeitsausweise, "die ihnen Zutritt zu allen olympischen Sportstätten in alle Bereiche" ermöglichen, schrieb Hegels. Der reibungslose Ablauf in puncto Sicherheit könne nur dann garantiert werden, "wenn mindestens der großen Mehrheit der Arbeitsausweisinhaber die Einsicht vermittelt werden kann, dass der Ausweismissbrauch unter den besonderen Bedingungen der Münchner Spiele zu einer echten Gefährdung von Veranstaltungen führen kann".

Sonderausweise wurden munter getauscht oder gleich gefälscht

Die Einsicht wollte sich nicht recht einstellen, und bei einer Krisensitzung fünf Tage vor der Eröffnungsfeier kam noch dazu heraus, dass mit den Sonderausweisen offenbar getrickst und manipuliert wurde. Fälschungen waren in Umlauf, zum Teil ohne Lichtbilder. Unter der Hand gab es eine muntere Tauscherei. Das OK drängte daraufhin die Kontrolleure an den Eingängen und die Ordner in den Hallen zum Durchgreifen. Das wiederum gelang auch nur bedingt.

Entsetzt registrierten Mitarbeiter des städtischen Ordnungsamtes, "dass Angehörige des Ordnungsdienstes es am nötigen Einsatz fehlen ließen", wie es in einem Bericht vom 29. August heißt. Andere waren schlicht überfordert - oder resignierten angesichts des Ansturms. Vor allem die Hostessen, bis heute Sinnbild der heiteren Spiele, wurden zum Problem. Es sei "nicht verständlich", dass eine große Zahl von ihnen Auf- und Abgänge blockierten, monierten die städtischen Kontrolleure.

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Wie ernst die Bedenken der Ordnungshüter waren, erkennt man heute auch an den Dingen, mit denen sie sich sonst beschäftigten. Auf der Spielstraße im Olympiapark bekrittelten sie etwa, dass ein Händler "deutliche Penis-Nachbildungen" feilbot. Bei einer Vorstellung im Theatron notierten sie sehr nüchtern, zwei als "reiterlose Zebras" verkleidete Männer "deuten einen Geschlechtsakt an". Irritiert liest sich ihre Feststellung, dass "die Darbietungen" von einem bunt gemischten Publikum ("vereinzelt auch Kinder") "mehrfach kräftig belacht und beklatscht" wurden.

"Das Schwimmstadion war bei den abendlichen Endläufen überfüllt", notierten die Kontrolleure. (Foto: Baumann/imago)

Zum gefährlichsten Überfüllungs-Hotspot entwickelte sich derweil das Schwimmstadion. Vor allem, wenn der US-Superstar und siebenfache Goldmedaillengewinner Mark Spitz an den Start ging, kam es dort zu tumultartigen Szenen. Am 28. August etwa, dem Tag, als Spitz zuerst Gold über 200 Meter Schmetterling holte und dann auch noch mit der amerikanischen 4x100-Meter-Freistil-Staffel. "Das Schwimmstadion war bei den abendlichen Endläufen überfüllt", notierten die Kontrolleure tags darauf. Zudem seien etwa 100 Zuschauer "an den Verstrebungen der Außenwand hochgeklettert und verfolgten von dort aus das Geschehen in der Halle". Lautsprecherwarnungen blieben erfolglos. Als Gegenmaßnahme, schrieben die Ordnungshüter, käme "eventuell auch das völlige Zuhängen der Glaswände der Halle von innen her in Betracht".

Am 29. und 30. August - wieder schwamm Mark Spitz - eskalierte die Situation: "Alle überhaupt noch zu erreichenden Eisenträger waren dicht mit Menschen besetzt", hielten die Kontrolleure fest. Das OK griff zu ungewöhnlichen, am Ende jedoch ebenfalls erfolglosen Maßnahmen, um die unerbetenen Zuschauer vom Hallendach fernzuhalten. "Der Versuch, das Besteigen durch die Anwendung von Schmierseife zu verhindern, ist fehlgeschlagen", heißt es in einem Vermerk.

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Besonders dramatisch geriet der Andrang dann zur Schlussfeier. Da sei das Arbeitskartensystem "völlig zusammengebrochen", so die städtischen Kontrolleure. Selbst Personen ohne Eintrittskarte gelang der Zutritt ins Stadion. Das Personal dort war überfordert und mit den Nerven am Ende. "Einzelne Dienstkräfte des Kontrolldienstes vermochten auf die einfachsten Fragen keine Auskunft mehr zu geben", notierten die Beamten.

Bei der Schlussfeier war Wolfgang Hegels Angst vor einer Panik ganz besonders berechtigt, wie man heute weiß. Für kurze Zeit mussten die Organisatoren an jenem Abend, dem 11. September 1972, davon ausgehen, dass sich ein unbekanntes Flugobjekt dem Stadion nähert - und Terroristen womöglich mit der Maschine als fliegende Bombe einen Anschlag auf die Arena planen. Im Bonner Verteidigungsministerium war bereits der Krisenstab um Minister Georg Leber zusammengetreten, zwei Abfangjäger der Bundeswehr waren aufgestiegen - da kam die erlösende Nachricht, dass es sich um eine finnische Passagiermaschine mit kaputtem Radar handele.

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