SZ-Serie: Nachtgeschichten:"Nachts ist man im Grunde das Mädchen für alles"

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Um 23 Uhr tritt Leon Wertschulte seinen Dienst an der Rezeption an - manche Gäste verschwinden schnell aus dem Gedächtnis, andere wird er wohl nie vergessen. (Foto: Stephan Rumpf)

Dunkelheit scheint bei Hotelgästen besonders exzentrisches Benehmen zu befeuern. Ein Münchner Rezeptionist über seine nächtlichen Erlebnisse - und Sonderwünsche wie Ziegen oder Mikrowellengeräusche.

Von Laura Kaufmann

Ein Hotel ist ein Mikrokosmos, der nach seinen eigenen Regeln funktioniert. In dem auch nachts alle Räder leise und effizient ineinander greifen, wenn sie müssen. Meistens müssen sie nicht, denn die Gäste schlafen nachts, und die Atmosphäre ist so gedämpft wie Schritte auf dem Teppich der Präsidentensuite.

Aber wenn nicht, und wenn sie dann noch im Charles Hotel am Alten Botanischen Garten abgestiegen sind, dann landen sie oft bei Leon Wertschulte. An seinem Telefon an der Rezeption oder gleich vor ihm am Desk. "Nachts ist man im Grunde das Mädchen für alles", sagt der 24-Jährige. Nachtdienste hat er in den vergangenen drei Jahren viele absolviert. Er sorgt dann dafür, dass alle Räder ineinander greifen. Um 23 Uhr ist dann sein Schichtbeginn, um 7.30 Uhr hat er Feierabend. "Gerade bei den ersten Schichten ist es wie ein schlimmer Jetlag", sagt Wertschulte, "aber nach ein paar Nächten hat man den Rhythmus drin." Im Sommer, wenn es richtig heiß ist, sind die Nachtschichten eine größere Herausforderung, weil es Hitze und Licht schwerer machen, tagsüber zu schlafen. Und ein wirkliches Sozialleben aufrecht zu erhalten ist auch schwierig. Aber die Stimmung der frühen Morgenstunden im Hotel ist eine besondere.

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Nachts in der Lobby verbringt Leon Wertschulte viel Zeit mit sich selbst, und oft führt er auch einen kleinen Kampf gegen die eigene Müdigkeit. "Man sucht sich Arbeit", sagt er. Ob das Dokumente schreddern ist oder mal über den Desk wischen. Hauptsache Bewegung. Gegen 1 oder 2 Uhr nachts kommen die letzten Geschäftsleute von ihren Terminen zurück, fahren hoch auf ihre Zimmer, das hoteleigene Restaurant Sophia's nebenan ist dann meist schon leer. Am Wochenende tönt vielleicht noch etwas Livemusik aus der Bar herüber.

Ansonsten hört Wertschulte die Playlist der Lobby leise spielen. Er kennt sie mittlerweile so gut, dass er anhand des Songs die Uhrzeit schätzen kann. Wenn die letzten Gäste eingetrudelt sind, dann ist es zumindest unter der Woche wahrscheinlich, dass er stundenlang keinen Menschen mehr sieht. Gespenstisch still ist es dann, trotz der Playlist. Bis frühmorgens der Zeitungsbote vorbeischaut. Gegen halb sechs Uhr wird es Zeit für die ersten Weckrufe. Im Morgengrauen rollen die Taxis vor den Eingang, Handgepäckkoffer werden durch die imposante Drehtür gezogen. "Die Geschäftsleute sind meist diejenigen, die als letzte zurückkommen und als erste wieder abreisen", sagt Wertschulte.

Das sind die normalen Dienste. Manchmal müssen Wertschulte und seine Kollegen an der Rezeption aber wie ein Porsche die Kunst beherrschen, in kürzester Zeit von 0 auf 100 zu beschleunigen. Während er, im Anzug, mit akkurat gekämmten Haaren und seiner schwarzen Avantgarde-Brille zu jedem Stand des Mondes wie aus dem Ei gepellt aussieht, tauchen manche Gäste des nachts in ganz anderen Zuständen auf. "Man bekommt menschlich viel mit", sagt Wertschulte.

Der tagsüber gestriegelte Geschäftsmann taumelt dann, im leichten Ausfallschritt, in lässiger Lederjacke und offenem Hemd in die Lobby. Die sonst so elegante Dame läuft plötzlich mit verschmierter Wimperntusche am Empfang vorbei. Während viele Gäste unauffällig bleiben und mit ihrer Abreise auch aus dem Gedächtnis verschwinden, bleiben andere in lebhafter Erinnerung, wie der einsame Mann mit Schlafproblemen zum Beispiel: "Er hat jede Nacht bei mir in der Lobby angerufen und sich fast eineinhalb Stunden lang mit mir unterhalten."

Die vielleicht wildeste Zeit für Wertschulte und seine Kollegen steht jetzt ins Haus. Das Oktoberfest natürlich. Für die 16 Tage ist die Rezeption nachts mit drei Personen besetzt, Sicherheitsgründe. Auch in einem Fünf-Sterne-Haus sind angetrunkene Menschen nicht immer der einfachste Umgang, "aber in der Regel ist es lustig, mit anzusehen, wie es alle krachen lassen". In der Küche werden bis frühmorgens Burger gebraten und Club-Sandwiches belegt. Selbst nüchterne Gäste kann der Wiesnwahn anstecken.

Zum Beispiel die Familie, die vergangenes Jahr spätabends in der Lobby Tee trank und fasziniert die Outfits der Oktoberfestrückkehrer bewunderte. Auf einmal standen sie gesammelt vor Leon Wertschulte und wollten auch so eingekleidet werden. Und zwar sofort. Stundenlang telefonierte er mit seinen Kollegen herum, aber es ließ sich niemand auftreiben, der um 2 Uhr morgens eine Familie mit Dirndl und Lederhosen versorgen wollte, sie mussten bis zum nächsten Tag warten. "Dann aber haben sie einen Trachtenausstatter sehr, sehr glücklich gemacht."

© SZ vom 11.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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