Florian Nöthe, 23, öffnet das Fenster, vielleicht hat er ja Glück. Kleine Rußflecken sind im Fensterrahmen zu sehen, rund, verdächtig. Nöthe schaut genauer hin, schmale Augen, er guckt so, als würde er ein seltenes Insekt suchen. Ein bisschen Asche im linken Fenstereck. Ein kleines Stück Papier, okay. Aber keine Kippe. Kein Glück. Nöthe schließt das Fenster im Turmzimmer. Er sagt: "Die Putzleute sind meine größten Feinde."
Nöthe ist Student an der Akademie der Künste. Und wenn man ihn so sieht, wie er durch die Gänge schlendert, in blauen Joggingshorts mit hohem Bund, weißen, hochgezogenen Tennissocken und blondem Schnauzer, wirkt er wie ein junger Hausmeister aus den Achtzigerjahren. Einer, der weiß, wo geraucht wird, im Turmzimmer, im Atelier, im Garten sowieso. Nöthe weiß das, weil er zwei Wochen lang durch die Akademie gelaufen ist, um Kippen zu suchen. Früh morgens, bevor geputzt wurde, am späten Nachmittag, wenn die Aschenbecher voll waren. Am Ende hatte er Tausende Kippen in einer Dose gesammelt. Dann fing er mit der Kunst an.
Projekt in München:"Ich wollte zwar Kunst, aber nicht dieses Künstlerleben"
Kathrin Shadi Aftahy, 25, möchte mit ihrem Projekt "Die Kunstvermittler" die alten Strukturen zwischen Künstlern und Galeristen aufbrechen. Nebenbei promoviert sie in Pharmazie.
Zigaretten sind für manche notwendig und für den Rest eklig, ein bisschen wie Basilikum-Spargel-Eis. Aber sobald die Zigaretten ausgedrückt sind, macht sich keiner mehr Gedanken über die Stummel - Müll halt. Florian Nöthe schon. Er pikste die gesammelten Kippen in einen Insektenkasten und stellte ihn aus. Seine Klasse erhielt damals einen Preis vom Akademieverein für die Ausstellung. Und Nöthe eine Anfrage: Ob er nicht noch so einen schönen Zigarettenkasten machen könne? Schön.
Um zu verstehen, warum Nöthe so etwas tut, Müll sammeln, muss man mit ihm durch die Akademie laufen. Und man muss seine Geschichte hören. Von der Nacht, als er zurücklief von einer Party vor drei Jahren. Dunkle Straßen, wenig Menschen. Nöthe schaute auf den Gehweg, er wollte nach Hause. Da fielen ihm die Kippen auf. Lange und kurze Stummel. Weggeschnippt und ausgetreten, platt gefahren am Straßenrand, aufgeweicht vom Regen. Kippen, die noch gar nicht zu Ende geraucht waren. Kippen mit weißen und braunen Filtern. Kippen mit Lippenstift. Nöthe sah die Stummel und dachte an Insekten. Daran, dass sie überall waren, und trotzdem meistens unbemerkt blieben. Unsichtbar irgendwie.
Die Sache war auf einmal sehr klar für ihn. Eine Freundin hatte ihm vor Jahren Insekten-Schaukästen geschenkt, die seitdem bei ihm zu Hause lagen, staubig und leer. Nöthe wollte den Zigarettenstummeln einen Rahmen geben, weil Dinge nicht mehr unsichtbar sind, wenn sie einen Rahmen haben. Er sammelte auf dem Nachhauseweg also die Stummel auf wie Münzen. Ein bisschen verstohlen, aber irgendwie auch glücklich. Drei, vier, am Ende der Nacht hatte er eine Handvoll Zigarettenstummel. Und weil er nicht wusste, wohin damit, steckte er sie in die Jackentasche. Nöthe sagt, er würde das nie wieder tun. Kippen in die Jackentasche stecken. "Es stinkt einfach so krass."
In der Akademie bleibt Nöthe jetzt im Flur stehen. Die Fenster sind überall sehr hoch hier, die Schritte hallen wie Wassertropfen aus einem undichten Wasserhahn. Nöthe hat hier eine besondere Entdeckung gemacht. Auf dem Fenstersims stand ein Martiniglas, leer, aber eben nur fast leer. Der Stiel einer Kirsche war noch drin. Und ein Zigarettenstummel. Nöthe hat ein Foto von dem Martiniglas auf dem Handy, ein Foto wie ein Filmplakat. "Das hat einfach irgendwie was", sagt Nöthe. "Was Intimes. Eine Kippe sagt ja immer auch was über die Situation aus, in der sie geraucht wurde."
Nach der Partynacht setzte Florian Nöthe die Zigarettenstummel in den Schaukasten, drückte sie mit winzigen Stecknadeln in die Rückwand, solange, bis seine Fingerkuppen wehtaten. Dann sammelte er weiter. In Berlin, dem Kippen-Paradies, in Moskau, wo sie weiße, dünne Zigaretten mit goldenem Filter rauchen, nicht die mit den braunen Filtern. Nöthe sammelte im Wirtshaus, wo er nebenher jobbte, leerte die Aschenbecher abends in eine Tüte, nahm Dosen mit, in denen mal Kartoffelsalat und Kräuter waren. Solche, die keinen Geruch nach außen lassen. Er sammelte und pikste und dann war der erste Insektenkasten voll. 70, vielleicht 80 Kippen. 2016 bewarb sich Nöthe dann an der Akademie der Künste mit seinem Zigarettenkasten. Aus Spaß sagt er, man muss ja mal was riskieren. Er ist jetzt im vierten Semester.
Nöthe geht am Erste-Hilfe-Raum im Erdgeschoss vorbei, die Tür ist offen. "Rauchen verboten", steht auf einem Ausdruck an der Wand, was überflüssig zu sein scheint, aber gar nicht überflüssig ist. In der Akademie rauchen sie überall, man riecht es nur nicht, weil die vielen Fenster gekippt sind. Nöthe raucht nicht, auf dem Fußboden in seinem Atelier liegen trotzdem Kippen. Was halt so vom Tisch fällt, wenn er arbeitet.
Die Dosen aus dem Wirtshaus stehen auf dem Tisch, Kippen in der einen, abgeklopfte Asche in der anderen. Daneben liegen Latexhandschuhe. Und ein kleiner brauner Insektenkasten, mit einem abgegriffenen Knopf. Er ist noch originalbeschriftet, "Lygaeidae" steht darauf in schnörkeliger Schrift. "Lygaeidae aus der Sammlung Geneker." Bodenwanzen waren da wohl mal drin. Und jetzt halt Zigarettenstummel.
Nöthe sagt, es waren vor allem die Raucher, die mit Ekel reagierten, wenn er sie nach seinen Zigaretten fragte. "Wäh, was willst du mit den Kippen?" Beschämt irgendwie. Dabei geht es Nöthe gar nicht um die moralische Botschaft, nicht um irgend so ein düsteres Mahnmal: "Leute, raucht nicht so viel." Ihm geht es um die Situation, in der die Zigarette geraucht wurde. Um die Spur, die bleibt, lange nachdem die Asche kalt geworden ist. Zigaretten in Bars, heruntergeraucht bis zum Filter während eines langen Gesprächs, und dann sorgfältig zusammengedrückt wie ein kleines Akkordeon. Zigaretten an Bahnhöfen, wo sich die Menschen noch schnell eine anzünden und glimmend zurücklassen, weil der Zug dann doch mal pünktlich war. "Ich finde, das hat was Schönes", sagt Nöthe. "Wie so eine unsichtbare Struktur, die plötzlich sichtbar wird, und man anfängt zu reflektieren: Was mach ich eigentlich?"
Vielleicht fehlen diese Momente zum Reflektieren, in Zeiten, in denen durch Social-Media-Profile eine neue Sichtbarkeit entstanden ist. Eine, die kein ungewolltes Detail zulässt, sondern alles kontrolliert, was Likes auf Instagram und Facebook bringt. Was zählt, ist die Inszenierung. Nicht das unsichtbare Detail.
Nöthe blickt an die Wand in seinem Atelier, da, wo sein Zigarettenkasten hing für die Jahresausstellung im vergangenen Jahr. Genau zwischen den Fenstern, ein Riesending. 3500 Kippen hatte er in einen weiß lackierten Insektenkasten gepinnt. In der Ausstellung mischte er sich dann einfach unter die Besucher, tat völlig unbeteiligt und beobachtete die Reaktionen. Beobachtete ihre Reflexion. "Eine sagte zu ihrem Partner: Guck mal, so viel rauchst du sicher im Jahr! Eine andere war ganz fasziniert von dem Lippenstift an einer Kippe. Manche fanden das Ganze einfach nur eklig", sagt Nöthe. Er lächelt, wenn er davon erzählt, er lächelt und guckt dabei auf den Boden. Als er den ersten Kasten baute, sagt er, wäre er manchmal einfach nur dagesessen und hätte sich gefragt, warum er das alles mache - die Zeit, das Geld für die Materialien, die Dreieinhalbtausend Kippen, die stinkenden Finger. Und als er dann vor seinem Schaukasten in der Ausstellung stand, zusammen mit den Besuchern und seinen Zweifeln, kam eine Frau auf ihn zu. Fragte, ob er der Künstler sei. Ob sie den Kasten kaufen könne. Schön sei er. Sie denke an viele Situationen, wenn sie die Zigarettenstummel ansähe. Nöthe verkaufte.
Seit der Ausstellung ist er über eine neue, unsichtbare Struktur gestolpert. Da war er gerade in Brüssel, geschäftsbedingt, Nöthe arbeitet auch als Flugbegleiter. Er stand vor seinem Hotelbett und fragte sich, auf welcher Seite er eigentlich schläft. Und warum? Warum er in New York auf der linken Seite im Hotelbett geschlafen hat, und zu Hause rechts? Wie er die Entscheidung getroffen hat, ohne sie bewusst getroffen zu haben? Und während er über die Fragen nachdachte, kam ihm die Idee, in seinem Kalender Kästchen zu malen. Kästchen, kleine Betten, mal rechts ausgemalt, mal links. "Bettgeschichten", nannte er das Projekt. Und als er davon erzählte, Freunden, der Familie, bekam er viele Zuschriften: Von denen, die immer am Fenster liegen wollen, von Ehepaaren, die schon lange fest zugeteilte Seiten haben. "Auf einmal hat da jeder reflektiert", sagt Nöthe. Er lächelt wieder, er guckt nicht mehr auf den Boden.
Überhaupt: Was das macht mit Menschen, wenn sie plötzlich eine neue Perspektive auf die Welt bekommen. Nöthe sagt, dass alle mitmachen wollten, bei dem Zigarettenprojekt, als sie sich erst einmal darauf eingelassen hatten. Ist auch immer noch so. Im Wirtshaus, sagt er, sammeln sie weiterhin Zigarettenstummel für ihn. Eimerweise. "Komm mal vorbei", sagen sie dann. Freunde bringen ihm ihre Kippen: "Da, du Verrückter". Und einmal fand er im Atelier eine Kippe, eingewickelt in ein Stück Papier wie Kaugummi. "Hab gedacht, vielleicht ist die was für dich", stand darauf. Irgendwann sagte Nöthe dann: "Okay, Leute, es reicht."