Elementarphysikerin:In der Tiefsee das All verstehen

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Elisa Resconi erforscht Neutrinos, Teilchen, die aus den entferntesten Winkeln des Universums stammen. Um zu erklären, was sie tut, arbeitet sie mit Künstlern zusammen. Und bald versenken sie Glaskugeln im Pazifik.

Von Martina Scherf

Elisa Resconi sitzt im Besprechungsraum ihres Instituts an der Technischen Universität München und schaut auf die Glaskugeln auf dem Tisch. Sie ist nicht etwa Hellseherin. Sie ist Physikerin, eine der angesehensten auf ihrem Gebiet. Sie sucht nach Neutrinos, Elementarteilchen, die aus den entferntesten Winkeln des Weltalls stammen. Und diese Glaskugeln, die jetzt vor ihr liegen, sollen ihr bei der Suche helfen. Also haben sie doch mit der Zukunft zu tun, jedenfalls mit dem wissenschaftlichen Fortschritt.

Draußen wechseln sich Schneeschauer und Sonnenschein ab, und jedes Mal, wenn der Himmel aufreißt, spiegelt sich das Licht in den geheimnisvollen Objekten auf dem Tisch. Entstanden sind sie aus einer Zusammenarbeit von Physikern und Künstlern - und schon bald werden sie im Meer versenkt. Genauer gesagt, im Pazifischen Ozean. Die Betrachter sind dann Tiefseebewohner: Muscheln, Krebse, Riesenkalmare.

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Vor der Küste Kanadas plant Elisa Resconi, 48, zusammen mit einer Gruppe von Wissenschaftlern einen neuen Detektor, um Neutrinos zu suchen. P-ONE (Pacific Ocean Neutrino Experiment) heißt das Projekt. Die Kugeln sind ein Teil davon. In 2700 Metern Tiefe werden Stahlseile verankert, daran mehrere Kugeln aufgehängt, die im Meer schweben und Sensoren enthalten, um Neutrino-Energie aufzufangen. Vier der Kugeln enthalten zusätzlich kleine Kunstwerke. Im Juni wird die Aktion starten, und wenn alles funktioniert wie geplant, soll das Forschungsprojekt später ausgeweitet werden. Dann entsteht im Pazifik ein Teleskop mit 1600 Kugeln, in einem Raum so groß wie der Bodensee. "Je umfangreicher der Raum, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass wir Neutrinos entdecken", sagt Resconi.

Es gibt ähnliche Teleskope bereits. In der Antarktis steht der Ice Cube. Ein Neutrino-Detektor in Form eines Würfels, 2500 Meter tief ins Eis eingegraben. Elisa Resconi war selbst noch nicht dort, doch sie wertet mit ihrer Arbeitsgruppe die Daten aus, die Computer täglich vom Südpol nach München schicken. 44 Forschungseinrichtungen weltweit betreiben den Ice Cube gemeinsam. Vor zwei Jahren feierten sie einen großen Erfolg: Erstmals gelang es den Wissenschaftlern, 14 Neutrinos einzufangen, die aus einer fernen Galaxie stammten, vermutlich aus einem schwarzen Loch mit der lyrischen Katalognummer TXS 0506+056. Das Loch, so vermuten die Physiker, befindet sich im Zentrum einer Galaxie im Sternbild Orion.

Neutrinos haben fast keine Masse und keine Ladung; sie reagieren nicht auf elektrische oder magnetische Kräfte, lassen sich nicht wie Protonen, Neutronen oder Elektronen im Labor messen oder in einem Teilchenbeschleuniger künstlich aufeinanderprallen. Neutrinos fliegen mit Lichtgeschwindigkeit durchs Weltall, sie durchdringen Galaxien, Sterne und Planeten, ja selbst unsere menschlichen Körper, millionenfach in jeder Sekunde, ohne dass wir es spüren. Geisterteilchen werden sie auch genannt.

Auch in Italien, Resconis Heimat, steht ein Neutrino-Teleskop. Tief unter dem Gran Sasso in den Abruzzen. Dort hat die Physikerin mit der Teilchenjagd vor vielen Jahren als Masterstudentin begonnen. Balletttänzerin wollte sie ursprünglich werden, erzählt sie, "aber dann überwog eines Tages die Leidenschaft für Physik". Dort unten, in der Tiefe des Gran Sasso, hat sie damals auch ihren Mann kennengelernt. Stefan Schönert ist ebenfalls Elementarphysiker in Garching. "Er beschäftigt sich mit den niedrig energetischen Neutrinos, ich mit den hochenergetischen", sagt Resconi und lacht, während Schönert den Kopf zur Tür herein streckt, um zu sehen, wann der Besprechungsraum wieder frei ist.

Die hochenergetischen, das sind die am schwierigsten zu findenden Teilchen. Andere Neutrinos kommen aus dem Inneren der Sonne, als Folge der Kernfusion, die dort permanent passiert; oder sie entstehen, wenn kosmische Strahlung auf die Erdatmosphäre trifft; die hochenergetischen Teilchen aber, die stammen aus fernen Galaxien, aus der Umgebung von Schwarzen Löchern oder aus Supernovae, Riesensternen im Todeskampf.

"Wissenschaft und Kunst, das ist es doch, was unsere Kultur ausmacht - nicht Geld, nicht Ego"

"Sie sind astronomische Boten. Sie öffnen uns ein Fenster ins Universum", sagt Elisa Resconi und unterstreicht ihre Worte mit ausladenden Gesten. Die Freude an ihrer Arbeit ist ihr anzusehen. "Wenn wir herausfinden, woher sie kommen, würde uns das eine völlig neue Art der Astronomie eröffnen."

Wer das schafft, hat wohl einen Nobelpreis sicher. Mag sein, sagt die Physikerin, "aber das ist ja nichts, worauf man hinarbeitet". Was sie antreibt, ist die uralte Frage: Woher kommen wir? Was hält das Universum zusammen?

Aber warum erforscht sie ausgerechnet Neutrinos? Die Geisterteilchen? "Mich interessiert immer das am meisten, was am wenigsten bekannt ist", sagt Resconi. Wenn sie in die Berge gehe, dann langweile es sie, einen Gipfel in Sichtweite zu besteigen. "Ich bin viel mehr motiviert, wenn es gilt, Unbekanntes zu entdecken. Nicht zu wissen, wie weit es noch ist und wo genau das Ziel liegt." Aus Millionen Daten etwas herauszulesen, womöglich am Ende die Herkunft eines Teilchens aus einem fernen Stern ablesen zu können, "ja, das macht mich glücklich".

Im Flur vor ihrem Büro steht eine große Drahtseiltrommel. Studenten knien mit Zange und Schraubenzieher am Boden und basteln an der Haltevorrichtung für die Glaskugeln. Ein paar Meter weiter sind kilometerlange blaue Kabel um ein Metallgerüst gewickelt. Das alles wird demnächst nach Kanada verschickt. Die Kanadier haben angeboten, eine vorhandene Infrastruktur am Meeresboden zu nutzen, das macht die Sache günstiger. Auch sollen Klimaforscher, Meeresbiologen, Chemiker von den gewonnen Daten profitieren, es werden auch Temperatur, Strömung, Wasserqualität gemessen.

Und wie kommt nun die Kunst ins Spiel? "Das begann auf dem zugefrorenen Baikalsee in Sibirien", erzählt Resconi. Auch dort gibt es ein Neutrino-Teleskop. Zwei ihrer Studenten trafen dort zufällig den Künstler Jol Thomson - es war der Beginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit. Bald fand sich in München eine Gruppe von Physik- und Kunststudenten, die sich SFB 42 nennt - Sonderforschungsbereich 42, nach der Zahl, "die alles erklärt", aus Douglas Adams' Roman "Per Anhalter durch die Galaxis".

"Wissenschaft und Kunst, das ist es doch, was unsere Kultur ausmacht", sagt Resconi, "nicht Geld, nicht Ego." Die Kunst sei ein idealer Gegenspieler, um als Forscher über die eigene Arbeit zu reflektieren. Projekte unter dem Label Arts and Science sind derzeit en vogue. "Aber vieles davon ist doch recht oberflächlich", sagt die Physikerin. "Die wissenschaftlichen Grundlagen müssen korrekt und nachvollziehbar sein. Sonst macht es keinen Sinn."

Die Glaskugeln machen Sinn. Sie sind Teil der Forschung und regen zugleich poetische Gedanken an. Die jungen Künstler hätten einen neuen Geist ins Institut gebracht, sagt Resconi, "sobald sie kommen, fangen wir an zu diskutieren, und die Zeit vergeht wie im Flug."

Es geht ihr aber noch um etwas anderes. "Normalerweise erreichen wir nur Menschen, die sowieso schon an unseren Themen interessiert sind." Eine winzige Elite. Laien stünden der Wissenschaft oft skeptisch gegenüber. Und die Schulen trügen kaum dazu bei, diese Skepsis zu überwinden, weil sie keine Begeisterung wecken, keinen Bezug zum Alltag herstellen. Mit der Kunst, sagt Resconi, kann das gelingen. "Und selbst wenn nur das Wort Neutrino hängen bleibt, ist schon etwas gewonnen." Dann schauen die Leute vielleicht im Internet nach und begreifen ein klein wenig von der Leidenschaft einer Elisa Resconi. Und wie das geht: in die Tiefsee zu tauchen, um etwas über das All herauszufinden.

© SZ vom 22.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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