Forschung:"Es ist schwierig für einen Philosophen, nicht zu denken"

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Das Spezialgebiet von Barbara Schellhammer ist die Kulturphilosophie. (Foto: Robert Haas)

Barbara Schellhammer beschäftigt sich mit den Inuit im Norden Kanadas und erforscht, wie Kulturverlust auf Menschen wirkt. Bald könnte sie die erste Professorin der Hochschule für Philosophie der Jesuiten werden.

Von Linus Freymark

Plötzlich war sie mit dem Jungen allein. Er war zu dieser Zeit erst 17, aber groß und muskulös, wie viele Inuit. Und er hatte ein Verbrechen begangen. Es lag Schnee. Es war kalt. Bis zu minus 40 Grad können es im äußersten Norden von Kanada werden. Er werde nicht mehr weitergehen, sagte der Junge zu ihr. Er machte es sich auf einem Baumstamm bequem, Barbara Schellhammer setzte sich zu ihm. Obwohl ihr unwohl zumute war, obwohl sie ein bisschen Angst hatte vor dem, was gleich passieren könnte. Aber der Junge tat ihr nichts. Er erzählte ihr eine Geschichte. Seine Geschichte.

21 Jahre war Barbara Schellhammer da alt. Zum ersten Mal war sie 1998, damals gerade in München für den Studiengang Soziale Arbeit eingeschrieben, in Kanada. Sie arbeitete mit Jugendlichen, die kaum älter waren als sie und die doch ein ganz anderes Leben hinter sich hatten. Schwer Erziehbare waren darunter, Gewalttäter, Sexualstraftäter. Jeden Morgen setzte sich Schellhammer mit ihnen in einen Kreis, und die Jungen erzählten. Was sie getan hatten. Aber auch, warum sie es getan hatten. Es waren schlimme Geschichten. Aber auch welche, die Schellhammer nicht mehr losgelassen haben.

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Sie lebte damals in einer Gegend, in die wohl nur wenige Europäer freiwillig ziehen würden. In der so heftige Schneestürme toben, dass man auf dem Weg zum Nachbarhaus erfrieren kann. In der die kargen Häuser auf Stelzen in das Eis getrieben sind, damit sie der zerstörerischen Kraft der Natur standhalten. Und in der es die Sonne die Hälfte des Jahres nicht über den Horizont schafft. Und trotzdem sagt Barbara Schellhammer, es sei dort wunderschön gewesen.

Das war vor knapp 20 Jahren. Jetzt könnte Schellhammer, 41, die erste weibliche Professorin an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten werden. Dozentin für Kulturphilosophie ist sie bereits, als erste Frau mit einem festen Arbeitsvertrag an der Hochschule des Männerordens.

Ihre Doktorarbeit hat sie über die Ureinwohner im nördlichen Kanada geschrieben, über die Inuit, die statistisch gesehen überproportional häufig straffällig werden. Schellhammer beschäftigte sich mit der Frage nach dem Warum. Seit mehr als 20 Jahren fährt sie regelmäßig nach Kanada. Seit ihr der Junge im Wald seine Geschichte erzählt hatte.

Wenn der Junge bestraft werden sollte, ging der Vater mit ihm zum Fluss. Er nahm dann den Kopf des Jungen und drückte ihn in das eiskalte Wasser. Bis der Junge dachte, er würde ertrinken. Dann zog der Vater ihn wieder heraus. Und drückte ihn wieder ins Wasser. Sinnlose Todesangst eines Jugendlichen, eines Kindes. Was macht das mit einem? "Man holt sich erlebte Gewalt zurück, indem man über andere verfügt", sagt Schellhammer. Deshalb landete der Junge in Ranch Ehrlo, der Einrichtung für schwer erziehbare und straffällig gewordene Jugendliche, in der Schellhammer in ihrer ersten Zeit in Kanada gearbeitet hatte. Und deshalb saß er alleine mit Barbara Schellhammer in dem verschneiten Wald und erzählte. Von dem, was er erlebt hatte. Von dem, was er getan hatte. Und wovon er träumte. Er würde gerne einmal eine eigene Familie haben, Frau, Kinder, vielleicht irgendwann mal Enkel. Schellhammer hörte zu, die ganze Zeit, bis der Junge fertig war. "Jetzt können wir gehen", sagte er am Ende.

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Schellhammers Blick wandert beim Erzählen langsam über den Schreibtisch in ihrem Büro in der Hochschule. Notizbuch, Schlüsselbund, Handy, viel mehr liegt darauf nicht herum. "Es ist schwierig für einen Philosophen, nicht zu denken", sagt sie dann. Wenn Schellhammer von ihrer Arbeit erzählt, ist sie mit ihren Gedanken zurück in Kanada. Zurück in Saskatchewan, 3 000 Kilometer nordwestlich der kanadischen Hauptstadt Ottawa. Zurück bei den Inuit, zurück bei Justin, dem Jungen aus dem Wald - Schellhammer hat seinen Namen nicht vergessen.

Vier bis fünf Prozent der kanadischen Gesamtbevölkerung machen die Inuit aus. Unter den Gefängnisinsassen liegt ihr Anteil dagegen bei fast einem Viertel. "Wenn man so will, sind die kanadischen Gefängnisse die größten Reservate", sagt Schellhammer.

Warum ist das so? Und welche Rolle spielt dabei die Kultur für den Menschen? Oder besser gesagt: Welche Rolle spielt Kultur insgesamt für den Menschen?

"Das liegt auch am Rassismus." Kein Nachdenken. Schellhammer ist überzeugt, dass die gewaltsame kulturelle Entwurzelung der Ureinwohner nach der Kolonialisierung eine wichtige Rolle spielt. Durch die kanadische Assimilationspolitik wurde vielen indigenen Völkern die kanadische Kultur aufgezwungen. Kinder und Jugendliche der Inuit wurden ihren Eltern weggenommen und in Internate gesteckt, in denen sie auf Englisch unterrichtet wurden. Viele von ihnen sprechen die Sprache ihrer Vorfahren nicht mehr. "Sie wurden in den kanadischen Mainstream eingegliedert", sagt Schellhammer. Kurzes Nachdenken. "Eigentlich ist umerzogen das richtige Wort."

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Die Kultur geht verloren, die eigene Identität ist dann nicht mehr lebbar, sagt Schellhammer. Es fehle ein "Bedeutungsgewebe", etwas, an dem man sich festhalten kann, etwas, das Orientierung gibt im Leben. Die First Nations in Kanada aber hängen zwischen den Kulturkreisen, fühlen sich weder dem ursprünglichen noch dem westlich geprägten Lebensstil der kanadischen Mehrheitsbevölkerung zugehörig. Identitätskonflikte entwickeln sich, das Gefühl, nicht vollwertig zu sein. Dann kommen die Gegenreaktion, die "-ismen" sagt Schellhammer dazu: Nationalismus, Fundamentalismus, Extremismus. Und bei den Inuit die hohe Suizidrate.

Es gibt Berichte von jungen Inuit, die kollektiven Suizid begangen haben. Vielleicht nicht nur wegen des Kulturverlusts. Aber höchstwahrscheinlich auch deshalb, so sieht es Schellhammer. Und dass diese Entwicklung mit der Globalisierung noch verstärken könnte. Verlust des Bindegewebes auf der einen, die Angst davor auf der anderen Seite. Fehlende Identität. Schellhammer - die Mutter war Lehrerin, der Vater Offizier bei der Bundeswehr - ist in Landsberg am Lech zur Schule gegangen und dort zunächst auf der Hauptschule gelandet. Eigentlich haben ihr ihre Lehrer nicht mal das zugetraut. Höchstens Förderschule, hieß es nach der Grundschule. Schellhammer hat nicht darauf gehört. Sie ist auf die Realschule gewechselt, Nonnenbunker nennt sie die Mädchenschule heute. Schellhammer sagt, sie sei "katholisch sozialisiert" worden. Sie ist gläubig. Aber sie kann den Glauben auch mal für einen lockeren Spruch ausklammern.

Fachabitur in Kaufbeuren, Studium der Sozialen Arbeit in München. Aber irgendwann haben ihr die Theorien dort nicht mehr ausgereicht. Deshalb die Philosophie. Schellhammer ist an die Hochschule gegangen, hat dort noch einmal drei Jahre studiert und dann promoviert, Titel ihrer Arbeit: "Dichte Beschreibung in der Arktis. Clifford Geertz und die Kulturrevolution der Inuit in Nordkanada". Manchmal ist Schellhammer aus der Vorlesung gegangen und hat die Welt mit anderen Augen gesehen. "Die Philosophie zeigt uns tagtäglich Leitmuster auf, wie wir unseren Problemen begegnen." Im vergangenen November hat sie ihre Habilitationsurkunde überreicht bekommen, wird eine Professur an der Hochschule der Jesuiten frei, könnte Schellhammer die erste weibliche Professorin dort werden. Man wolle sie auf jeden Fall gerne behalten, heißt es in der Hochschule.

2002 wanderte Schellhammer aus nach Kanada, in ein kleines Dorf, in dem regelmäßig die Toiletten eingefroren sind. Aus dem man an manchen Tagen nicht wegkommt, weil die Straßen, die nur aus Schnee und Eis bestanden, unpassierbar sind. Sie wurde von den Einheimischen gut aufgenommen, aber trotzdem war sie in dem Dorf auch sehr oft sehr allein. Und trotz allem sagt sie über ihr Leben und ihre Arbeit in Kanada: "Das gibt einem sehr viel Sinn." Sie bekam eine halbe Stelle an der Royal Roads University in Victoria, Kanada. Die andere Zeit arbeitete sie in an der Uni Kassel. Ein Semester hier, ein Semester dort.

2013 kam sie zurück nach München. An der Wand in Schellhammers Büro hängt eine Weltkarte, und wäre Schellhammer ein bisschen eitler, als sie ist, hätte sie vielleicht mit kleinen Fähnchen die Länder auf der Karte markiert, in denen sie schon gewesen ist. Kenia, Irak, Togo. Überall dort hat sie erforscht, was Vertreibung, was kulturelle Verdrängung mit den Menschen macht. Im Irak etwa hat sie mit den vom IS verfolgten Jesiden gesprochen.

Vor allem aber wäre es im linken oberen Viertel der Karte voll geworden. Dort, wo der Staat liegt, in dem Schellhammer einen Großteil ihres Lebens verbracht hat. Aber das mit den Fähnchen ist nicht Schellhammers Sache. Die ganzen Stäbchen und Stofffetzen würden nur den Blick aufs Wesentliche versperren.

© SZ vom 16.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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