Folgen der Pandemie:Vertrieben vom Virus

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Große Sprünge konnte Silvio L. nie machen, aber er kam über die Runden. Seit der Pandemie geht es für ihn bergab - Ende März muss er aus seiner Wohnung raus. (Foto: Yoav Kedem)

Silvio L. arbeitet im Sicherheitsgewerbe, doch wegen Corona bekommt er viel weniger Aufträge. In einigen Tagen wird er einer von 9000 Wohnungslosen in München sein.

Von Anna Hoben

Silvio L. kann gut mit Menschen. Es macht ihm nichts aus, lange zu stehen, auch wenn danach der Rücken weh tut. Er hilft gern anderen, "das hab' ich immer gern gemacht". L. arbeitet im Sicherheitsgewerbe, seit mehr als 20 Jahren. Er ist stolz auf seinen Job, "man muss es können", sagt er. L. hat Banken bewacht, Firmen, Wohnhäuser, ein wissenschaftliches Institut, das Rathaus. Er mag seine Arbeit, und deshalb hat er immer in Kauf genommen, dass er nicht viel Geld verdient. Elf Euro pro Stunde, nicht weit über dem Mindestlohn. Große Sprünge konnte er nicht machen, aber er kam immer über die Runden - vor allem weil er viel mehr Stunden arbeitete als vorgesehen. 220 bis 240 Stunden im Monat seien normal gewesen, sagt Silvio L. Bis zur Corona-Pandemie.

Die finanziellen Probleme, die er vorher schon gehabt hatte, verschlimmerten sich. Im Lockdown wurden an vielen Orten keine Sicherheitskräfte mehr gebraucht. In Museen zum Beispiel - die waren ja geschlossen. L., 48, bekam deutlich weniger Stunden zugeteilt. Im schlimmsten Monat seien es nur 93 Stunden gewesen, sagt er. Bald konnte er seine Miete nicht mehr bezahlen. Auf die fristlose Kündigung im August folgte eine Räumungsklage.

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Ende Februar sprach ein Richter am Amtsgericht das Urteil: Zum 31. März muss Silvio L. seine Wohnung verlassen. Das Gericht räumte ihm einen kleinen zeitlichen Puffer ein: Eine Räumungsfrist von einem Monat sei "trotz Vorliegen eines erheblichen Zahlungsrückstands interessengerecht und angemessen", heißt es in dem Urteil, "da die derzeit grassierende Pandemie das Auffinden und Anmieten von Ersatzraum objektiv signifikant erschwert". Für L. heißt das: Nur noch wenige Tage, dann steht er auf der Straße. Er wird dann einer von etwa 9000 Menschen in der Münchner Wohnungslosenstatistik sein.

Sein Fall zeigt exemplarisch, was vor Kurzem der Entwurf des Armutsberichts der Bundesregierung festgestellt hat: Die Corona-Pandemie trifft vor allem die unteren Einkommensschichten. Wer wenig verdient, ist oftmals noch ärmer geworden. Bis Ende August 2020 haben laut dem Berichtsentwurf 15,5 Millionen Haushalte in Deutschland Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. 30 Prozent der Befragten mit besonders niedrigen Einkommen hatten seit Beginn der Pandemie Probleme, laufende Ausgaben zu decken.

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So wie Silvio L. Er stammt aus Halle an der Saale, Walzwerker hat er ursprünglich gelernt, hat aus Metallen Bleche, Draht oder Rasierklingen hergestellt. Ende der 80er-Jahre landete er im Gefängnis nach dem Versuch, in den Westen auszureisen - er wollte zu seinem Vater nach Bayern. Nach der Wiedervereinigung ging er zur Bundeswehr, 1997 zog er nach München und begann, im Sicherheitsdienst zu arbeiten. Zwei Jahre später bezog er die kleine Wohnung, aus der er nun raus muss. Ein Zimmer, Küchenzeile, Bad. Seit Jahren gebe es im Bad kein Warmwasser, sagt L. Er nahm es hin, auch weil die Miete mit 500 Euro im Monat günstig für München war. Immer wieder schaute er sich nach einer neuen Wohnung um - ohne Erfolg.

Während Deutschland darüber diskutiert, ob es ein Recht auf Osterurlaub gibt, kann man Silvio L. ja mal fragen, wann er das letzte Mal verreist ist. L. überlegt, 2010 müsste es gewesen sein, sagt er, da habe er einen Freund in Österreich besucht. Der letzte richtige Urlaub: 1996, zwei Wochen England. Klar würde er gern mal wieder raus, Irland ist sein Sehnsuchtsziel. Aber er sagt, er brauche das nicht, jedes Jahr Urlaub. "Alle zwei Jahre wäre schön." Aber eigentlich will er nur über die Runden kommen. Und vor allem raus aus den Schulden. Er möchte nun Privatinsolvenz beantragen. Wegen der Schulden, die sich angehäuft haben, wird seit dem vergangenen Sommer sein Lohn gepfändet. Was bleibt, braucht er für seine Fahrkarte und für Lebensmittel. Vergangenen Sommer ist er auch zum ersten Mal mit dem Rucksack losgezogen, Pfandflaschen sammeln. Seine Mutter, sie wohnt im Chiemgau, schickt ihm manchmal ein bisschen Geld.

Auch beim Mieterverein München schlagen nach einem Jahr Corona-Krise mehr Fälle auf von Menschen, die wegen der Pandemie mit Mietschulden zu kämpfen haben. Acht bis zehn Prozent der Beratungen hätten mittlerweile damit zu tun, schätzt Geschäftsführer Volker Rastätter. In der Regel lasse sich das Schlimmste abwenden. Wer in Schwierigkeiten stecke, solle nicht zögern, sich an die Stadt zu wenden. Die Fachstelle zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit kann in solchen Fällen helfen. Auch Silvio L. hat sich an ein Sozialbürgerhaus der Stadt und an den Mieterverein gewandt - allerdings ist er erst aktiv geworden, als es schon viel zu spät war.

Zu Beginn der Pandemie profitierte der 48-Jährige noch vom Schutzschirm der Bundesregierung für Mieter. Der gewährte bis Ende Juni 2020 einen speziellen Kündigungsschutz. Danach wurde er allerdings nicht verlängert. Und die Mieter müssen das Geld bis Juni 2022 zurückzahlen, unter Umständen mit Verzugszinsen. Der Schutzschirm habe den meisten Betroffenen deshalb ohnehin nicht geholfen, klagt Mietervereins-Geschäftsführer Rastätter. Der Verein fordert vom Bund einen "Sicher-Wohnen-Fonds", mit dem Mieter ein zinsloses Darlehen bekommen. Die Mieten seien während der Pandemie weiter gestiegen, und auf eine Wohnung würden sich noch mehr Menschen bewerben als vorher, sagt Rastätter. Er prophezeit: "Da kommt noch etwas auf uns zu, das bisher ein bisschen unterm Deckel geblieben ist, weil der Staat das Füllhorn ausgeschüttet hat."

L. bleibt hoffnungsvoll, "ich bin ein Mensch, der aus allem Negativen noch etwas Positives zieht", sagt er über sich. Er würde gern ins Münchner Ledigenwohnheim ziehen, eine der letzten Einrichtungen ihrer Art. Dort gibt es einfache, günstige Zimmer - doch die Warteliste ist lang. Langfristig liegen seine Hoffnungen auf einer Idee, die im vergangenen Herbst im Kommunalausschuss des Stadtrats vertagt wurde und nun im Frühjahr wieder aufgenommen werden soll. Es geht darum, einen städtischen Sicherheitsdienst einzuführen statt private Dienstleister zu engagieren. Zurzeit finden in der grün-roten Koalition dazu Gespräche statt. L. würde sich gern bei der Stadt bewerben.

Er ist jetzt am Packen und Aussortieren. Quasi in letzter Minute hat sich eine Lösung aufgetan, zumindest für den Anfang. Vorübergehend kann er in einem Heim der Wohnungslosenhilfe beim Internationalen Bund unterkommen. Ein Freund wird ihm die Sachen hinfahren, die er mitnehmen kann. Und dann wird Silvio L. zum letzten Mal seine Wohnungstür schließen.

© SZ vom 26.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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