Kompass:Neue Blätter braucht das Jahr

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"Erinnerung an Rom, Biga" (1974) nannte Fritz Koenig diese kleine goldene Dose. Sie ziert eines der Kalenderblätter. (Foto: Toni Ott)

Arbeiten junger Künstler, Bedenkenswertes von Klassikern, Lyrik für Kinder und Zeugnisse der Industriekultur: Eine Auswahl besonderer Kalender aus München fürs Jahr 2022

Von Jutta Czeguhn, Barbara Hordych, Jürgen Moises, Sabine Reithmaier und Antje Weber

Trotz Digitalisierung erfreuen sich gedruckte Wand-Kalender nach wie vor großer Beliebtheit. Sie bieten eben auch mehr als die reine Tagesorientierung nebst Termineintrag auf dem gewöhnlichen Bürokalender oder im Smartphone. Diese Auswahl an besonderen Kalendern aus München für 2022 hält auch bei einer mehrmaligen Betrachtung noch Entdeckungen bereit.

Fritz Koenigs Miniaturen

Die Plakette, die das Januarblatt des Kalenders ziert, hat Fritz Koenig im Jahr 1981 geschaffen. Damals war die Welt des Bildhauers auf dem Ganslberg ganz eindeutig noch in Ordnung. Die akribische Auflistung der Bewohner an seinem Lebens- und Arbeitsort in der Nähe von Landshut gleicht einer richtigen Bestandsaufnahme. Drei Frauen, drei Männer, sechs Pfauen nebst fünf Küken, sechs Perlhühner, zwölf Hühner, achtzehn Katzen, einen Hund, zwölf Vollblutaraber, vier Araberfohlen und ein Shetland Pony. In diesem Jahr rückte der verwaiste Ganslberg wieder ein wenig stärker ins Bewusstsein. Zum einen wegen der Ausstellung, mit der dort in der Kugelhalle an die dramatische Geschichte von Koenigs "Großer Kugelkaryatide" (von den New Yorkern "The Sphere" genannt) erinnert wurde. Zum anderen weil der Ganslberg endlich als denkmalgeschütztes Ensemble anerkannt wurde. Daher war es dem Freundeskreis Fritz Koenig wichtig, ihren Kalender auch mit der Künstlerresidenz zu beginnen. Dieses Mal stehen Koenigs Miniaturen im Zentrum. Oft Motive, die er ähnlich auch in größeren Werken ausgeführt hat, die "Kleine Pieta" oder das "Halbkugelkreuz". Wunderbar auch seine goldenen Schmuckstücke, die meist als persönlich gewidmete Geschenke entstanden. Vollblutaraber spielen auch hier eine wichtige Rolle.

Fritz Koenig. Miniatura. Die Welt im Kleinen. Hrsg. vom Freundeskreis Fritz Koenig, 15 Euro, zu bestellen über www.freunde-fritz-koenig.de

Gedicht-Gezwitscher

"Willst du dich selber erkennen, so sieh wie die andern es treiben, / Willst du die andern verstehen, blick in dein eigenes Herz." Wer hätte den Menschen besser verstanden als Friedrich Schiller? (Nun ja, Goethe vielleicht.) Dass Schillers Zweizeiler "Der Schlüssel" das Titelblatt des Gedichtekalenders "Zilpzalp" ziert, ist jedenfalls aufschlussreich. Hier geht es um bleibende Werte, so darf man das interpretieren - und sieht man die Auswahl der 24 Gedichte an, die am Staffelsee-Gymnasium in Murnau unter Leitung von Norbert Neumann erarbeitet wurde, so fallen tatsächlich viele Klassiker auf: Gedichte von Rainer Maria Rilke, Theodor Fontane oder Annette von Droste-Hülshoff zum Beispiel. Auch berühmte Namen der Moderne wie Ingeborg Bachmann, Ernst Jandl oder Rose Ausländer sind dabei sowie bekannte und noch nicht ganz so bekannte Gegenwartsautoren wie Ulla Hahn, Volker Braun oder Björn Kuhligk.

Jeder Monat bekommt in diesem Kalender, der den Namen eines Singvogels trägt und seit 2015 im Lyrik Kabinett München erscheint, eine Seite Platz - und jede Seite bietet wiederum Platz für zwei Gedichte. Das Besondere dabei: Zwölf- bis 17-jährige Schülerinnen und Schüler des Murnauer Gymnasiums haben jedes der Gedichte mit einem Linolschnitt illustriert und zeigen dabei beachtliches künstlerisches Talent. Bei diesem Kalenderprojekt können aber nicht nur die Schüler, sondern auch die Leser so einiges lernen. Zum Beispiel von Goethe, der als alter Kumpel von Schiller in der Auswahl natürlich doch nicht fehlt: "Was lehr' ich dich vor allen Dingen?", fragt er in seinen "Zahmen Xenien", mit denen der Kalender im Dezember endet. Die Antwort: "Möchte über meinen eignen Schatten springen!" Wenn das mal so einfach wäre.

"Zilpzalp-Gedichtekalender", Stiftung Lyrik Kabinett, 12 Euro, Bestellungen über den Buchhandel oder info@lyrik-kabinett.de

Schüler wählen die Gedichte aus und illustrieren sie mit Linolschnitten: der ZilpZalp-Kalender. (Foto: Oskar Mankau /Stiftung Lyrik Kabinett)

Kleiner und großer Bruder

Von Wörtern "leicht wie Pappelsamen" handelt das Gedicht "Windgriff" von Hans Magnus Enzensberger; von Wörtern, die vielleicht die Erde lockern und später einen Schatten werfen. Natürlich ist es kein Zufall, dass Herausgeber Dirk von Petersdorff dieses Titelgedicht für den "C.H. Beck Gedichtekalender" gewählt hat - in der Hoffnung, die fürs Jahr ausgewählten Gedichte von Matthias Claudius bis Robert Gernhardt mögen die Leser weit tragen.

Dieser Kalender, der 2022 im 38. Jahrgang erscheint, hat eine lange Münchner Tradition. Einst hieß er "Kleiner Bruder" und erschien bei Langewiesche-Brandt von Kristof Wachinger in Ebenhausen. Der große Bruder C.H. Beck führt den Kalender des inzwischen aufgelösten kleinen Verlages weiter - nach wie vor mit gediegener Sorgfalt und geschmackvoll dezenten farbigen Pinsel-Vignetten von Chris Campe. Hier bekommen die Gedichte viel Platz und sind daher auch mal ziemlich lang. Jedes Gedicht kann auf einer eigenen Seite wirken, und alle zwei Wochen darf man eine neue Seite aufschlagen. So kommen im Laufe des Jahres 24 Gedichte zusammen. Altes und Neues, Unbekanntes und Bekanntes hält sich dabei die Waage: Das Spektrum reicht vom mittelalterlichen Minnesänger Dietmar von Aist über die dadaistische Schriftstellerin Emmy Hennings bis zur Gegenwart. Da steigt auch Jan Wagners "alter biker" zwischendurch "schnaufend von seiner maschine". Und wirft einen Schatten.

"C.H.Beck Gedichtekalender", C.H. Beck, München, 18 Euro, Bestellung über den Buchhandel oder bestellung@beck.de

Von Minnesang über Dadaismus bis zur Gegenwart: der Gedichte-Kalender "Kleiner Bruder". (Foto: C.H. Beck Verlag)

Zwischen Abriss und Bewahren

Einen "Gruß aus Stadelheim" hat da jemand um das Jahr 1901 via Postkarte versendet. Wer auch immer der Adressat gewesen sein mag, auf der Karte präsentierte sich ihm eine mit ruhigem, sicheren Tuschestift gezeichnete Ansicht des "Königlichen Strafvorstreckungsgefängnisses" und "Zentraluntersuchungsgefängnisses". Im Hintergrund Alpenpanorama. Heute befindet sich diese interessante Post im Besitz der Münchner Stadtmuseums. Sie gehört zu den Dokumenten, welche die Autorinnen und Autoren eines sehr rührigen, dem Archiv der Münchner Arbeiterbewegung angeschlossenen Arbeitskreises ausgegraben haben, der sich systematisch mit Münchens noch viel zu wenig erforschter Industriekultur befasst und nun schon den fünften Jahreskalender in Folge herausbringt.

Für München-Nostalgiker, die sich gerne mal historische Stadtansichten in Sepia über das Wohnzimmersofa hängen, ist dieser Kalender eher nicht die richtige Wahl. Hier geht es nicht darum, einer Welt von gestern nachzuhängen. Mit vielen Bildbeispielen und jeweils ausführlicher Legende auf einem stolzen Format von 42 mal 30 Zentimeter will dieser Kalender Bewusstsein wecken für die Bedeutung der Zeugnisse der Industriekultur: Für Bauwerke, die schon verschwunden sind wie der JRO-Kartenverlag in Laim. Für Gebäude, denen der Abriss droht, aber auch Objekte, die erhalten blieben wie das Ledigenheim in der Bergmannstraße oder die umgenutzt wurden wie etwa das Paketzustellamt in der Arnulfstraße, in dem heute Google residiert. "Wir wollen damit die Diskussion über den Umgang mit diesen historischen Gebäuden in Gang bringen und Mitstreiter für ihre Erhaltung gewinnen", sagen die Herausgeber.

Industriekultur in München, Kalender 2022, 15 Euro, Verlag Franz Schiermeier, München, Tel. 599 477 51, franz.schiermeier@web.de .

Wegweisende Architektur: die Baustelle der Rotunde des Paketpostamts an der Münchner Arnulfstraße im Jahr 1926. Heute residiert im Baudenkmal der Google-Konzern. (Foto: PROV - Museumsstiftung Post und Telekommunikation/Kalender 2022 "Industriekultur in München", Arbeitskreis Industriekultur im Archiv der Münchner Arbeiterbewegung)

Lyrik für Kinder

Das Chamäleon, das unter hundert Namen mit sechs verschiedenen Gesichtern dreimal täglich in zwei Vorstellungen auftritt, stammt aus Finnland. Genauer gesagt aus dem Gedicht von Laura Ruohonen, dem Erika Kallasmaa eine witzige Illustration des wandelbaren Bühnenhelden mit Königsmantel und Krone beigesellt hat. Seinen großen Auftritt hat es im "Kinder Kalender 2022", den die weltweit vernetzten Lektorinnen und Lektoren der Internationalen Jugendbibliothek dieses Jahr bereits zum zwölften Mal herausgeben, mit 53 illustrierten Gedichten aus 34 Ländern in 31 Sprachen. Dort erfährt man dann auch, wie es dem Chamäleon weiter erging: Über seine vielen Vorstellungen hatte es doch glatt das Zähneputzen vergessen, was ihm am Ende zum Verhängnis wird. Neben dem Chamäleon begegnet man in dem Lyrik-Wochenkalender noch vielen weiteren wunderbaren Tier-Gestalten: Da ist der Hahn, "ein schönes streitbares Federvieh" in dem französischen Gedicht von Louis Aragon; oder die kleine Katze Pieterel in dem niederländischen Gedicht von Annie M.G. Schmidt. Die zieht es vor, künftig lieber grau statt weiß zu sein - denn das ist weniger "empfinderlich". Aber auch Gegenstände entwickeln hier schon mal ein Eigenleben, etwa wenn der Staubsauger davon träumt, ein Mondmobil zu sein wie in dem russischen Gedicht von Tat'jana Stamova.

Gemeinsam mit den farbenprächtigen Illustrationen ergibt sich beim Betrachten ein schillerndes Potpourri, zusammengesetzt aus Stimmen und Bildern aus der ganzen Welt. Die Gedichte sind immer in ihrer Originalsprache und in ihrer deutschen Übersetzung abgedruckt. Erstmals sind auch Texte in Kreolisch, Rätoromanisch, aus dem ägyptischen Arabisch und Korsisch dabei. Ein zauberhafter Lyrik-Kosmos für Kinder, ach was, für Lyrik-Liebhaber jeden Alters.

Kinder Kalender 2022, Edition Momente, 20 Euro. Herausgegeben von der Internationalen Jugendbibliothek .

Chamäleon im Königsmantel: Über seine Wandlungsfähigkeit und seine zahlreichen Auftritte vergisst es leider das Zähneputzen. (Foto: Internationale Jugendbibliothek/edition Momente)

Kunst im Wandel

Eigentlich ist er 2013 wegen der Wüsten nach Island gereist. Was ihn dann aber noch mehr fasziniert hat, das waren die schmelzenden Gletscher. Seitdem sind sie für Planetary Intimacies, wie sich der an der Nürnberger Akademie studierende Künstler unter Pseudonym nennt, das zentrale Thema. Das erkennt man auch auf dem mit Tusche und Acryl erstellten Bild "Zärtliche Zeitlichkeit", das im Kunstkalender "Next Generation 2022" der LfA Förderbank Bayern auf dem Kalenderblatt Februar dargestellt ist. Darauf sieht man das großformatige Werk inmitten einer isländischen Landschaft aufgespannt: im direkten Dialog mit ihr und als Zeugnis eines fortschreitenden (Klima-)Wandels, den der Künstler mit einem Langzeitprojekt dokumentieren will.

Seit 1997 gibt es den Kunstkalender der LfA, der in Kooperation mit den Kunstakademien in Nürnberg und München entsteht. Und der Nachwuchskünstlern die Möglichkeit gibt, ihre Arbeit einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren. Dazu gehört in diesem Jahr auch die ebenfalls in Nürnberg studierende Leonora Prugger. Für ihr abstraktes Gemälde "24 hours" war der Ausgangspunkt das Motiv des Tisches, der für viele unter Corona verstärkt zu einem Lebensmittelpunkt wurde. Inkyu Park aus München hat sehr aufwändig und filigran den "Denker" von Rodin aus Tetra-Pak-Stücken nachgebildet. Er selbst nennt das Werk eine "Digitale Parodie". Ob es auch eine Kritik an der Konsumgesellschaft ist, das kann sich jeder selber denken.

LfA-Kunstkalender "Next Generation 2022", gedruckt oder als digitale Version mit ausführlichen Infos zu den Kunstwerken unter www.lfa.de/kalender

Rodins Denker - nachgebildet aus Tetra-Pak-Stücken. Inkyu Parks "digitale Parodie". (Foto: LfA Kalender)
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