Literatur zum Nulltarif:Wo Tucholsky auf Konsalik trifft

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Unter anderem Konsalki gibt es im Bücherschrank in Pullach. (Foto: Claus Schunk)

Im Vergleich zu Bibliotheken haben öffentliche Bücherschränke klare Vorteile: Schmöker kann man länger behalten, Schund einfach loswerden. Eine Tour zu den frei zugänglichen Regalen offenbart erstaunliche Lesegewohnheiten.

Von Iris Hilberth, Unterhaching/Neubiberg

Es gibt Menschen, die sortieren ihre Bücher im Regal nach Farben. Andere nach Alphabet oder Größe: Bildbände unten, Taschenbücher oben. Literaturklassiker bekommen einen auffälligen Platz in der Mitte, Seichtes und Psychologie-Ratgeber wandern in die zweite Reihe. Der gute Eindruck zählt. Bei öffentlichen Bücherschränken ist das anders.

Öffnet man etwa die schwerfällige Tür der roten Telefonzelle auf dem Unterhachinger Rathausplatz, die als Fernsprecher längst ausgedient hat und mittlerweile jede Menge Lesestoff beherbergt, so findet man "Bibi Blocksberg" neben "Latein für Angeber", das "Wörterbuch der Industriellen Technik I und II" in trauter Nachbarschaft zu Konsalik und Tucholsky. Selbst wer sich für "anatolische Hirtenerzählungen" interessiert, wird hier fündig. Öffentliche Bücherschränke leben vom Geben und Nehmen der Spender und Leser und offenbaren vor allem eines: Die Lektüre der Anderen.

Nun wird man natürlich nie erfahren, wer sich in Unterhaching von dem Buch "Alle Männer wollen nur das Eine" getrennt hat, ob in Neubiberg irgendwann mal ein bücheraffiner Nachwuchssportler Philipp Lahms Werk "Wie man heute Spitzenfußballer wird" aus dem Bücherschrank am S-Bahnhof mit nach Hause nimmt, wer sich im Ottobrunner Phönixbad aus dem Regal neben der Bademode "Die Liebe in Zeiten der Cholera " angelt und warum in Sauerlach die Sammlung "Käse - die 200 besten Sorten der Welt" zu Hause aussortiert und den Mitbürgern zur Verfügung gestellt wurde. Denn anders als in Büchereien, wo registriert wird, wer wann was ausgeliehen hat, kann sich in den öffentlichen Bücherschränken jeder selbst rund um die Uhr etwas aussuchen oder hineinstellen. Es gibt keine Öffnungszeiten und keine Rückgabefristen. Niemand wird nachfragen, wenn man "Kübelpflanzen. Der Traum vom Süden" aus dem Taufkirchner Schrank in der Eschenpassage einfach behält oder mal länger braucht, bis man in Pullach mit Irwin Shaws "Aller Reichtum dieser Welt" durch ist.

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(Foto: CLAUS SCHUNK 01716)

Mitnehmen erwünscht: Im Landkreis gibt es inzwischen viele öffentliche Bücherschränke, zum Beispiel in Baierbrunn ...

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... und Ottobrunn. Fotos: Claus Schunk

Die Idee der öffentlichen Bücherschränke wurde bereits in den Neunzigerjahren entwickelt. Ursprünglich hatten die Aktionskünstler Michael Clegg und Martin Guttmann ihr Projekt als Kunst im öffentlichen Raum in Graz, Mainz und Hamburg präsentiert. Es gab bald Nachahmer und schließlich einen als Stadtmöbel entworfenen wetterfesten und vandalismusresistenten Bücherschrank aus Stahl und Acrylglas für die Straße. Oftmals aber werden wie in Unterhaching und Baierbrunn ausrangierte Telefonzellen hergenommen oder ein Holzbau wie in Neubiberg, dessen Architektur an die Wachhäuschen vor dem Buckingham Palace erinnert.

Dass die Lese-Angebote im Landkreis in vielen Gemeinden rege genutzt werden, hat sich insbesondere in der Pandemie bestätigt. "Der Bücherschrank war unsere Rettung", sagt Ursula Schulze vom Bürgertreff Taufkirchen, vor dessen Tür der blaue Blechschrank steht, den die Soziale Stadt vor drei Jahren hier aufgestellt hat. Insbesondere die Kinderbücher seien sehr nachgefragt gewesen und sind es immer noch. "Die sind immer gleich weg", weiß Schulze. Nachschub ist erwünscht.

Ausleihen und später dasselbe oder ein anderes Buch zurückgeben: Nach diesem Prinzip funktionieren viele Bücherschränke, auch der in Unterhaching. (Foto: Claus Schunk)

Häufig ist es aber eher so, dass mehr Bücher gespendet werden, als sie Platz haben in den kleinen Häuschen. In Unterhaching muss der Städtepartnerschaftsverein, der seine englische Telefonzelle aus der Partnergemeinde Witney seit April vor allem mit internationaler Literatur bestücken möchte, immer wieder Lektüre auslagern, damit die Regale nicht überlaufen. "Dicke Wälzer gehen gar nicht, am liebsten nehmen die Leute kurze Geschichten", sagt Vereinsvorsitzender Thomas Jaeger. Man müsse schon jeden Tag reinschauen. Als etwa neulich sämtliche Karl May-Bände dort abgelegt wurden, habe er sie erst einmal mitgenommen und biete sie jetzt nach und nach an. Dass Leute sich in Bücherschränken bedienen, um dann begehrte Werke zu verkaufen, ist anderswo schon vorgekommen, in Hamburg etwa, wo an drei Standorten mehr als eine gut gefüllte offene Bibliothek mit einem Lieferwagen komplett geleert worden sein soll.

Von solchen Problemen kann im Landkreis niemand berichten. Vielmehr hängt auch im Neubiberger Holzhäuschen ein Zettel mit der klaren Botschaft: "Hilfe! Unser Bücherschrank quillt über!" Man solle nur Bücher hineinlegen, wenn Platz dafür sei. Darauf achtet auch Barbara Gumbel mit ihrem siebenköpfigen Team in Sauerlach, wo bereits seit fünf Jahren ein Bücherschrank am Bahnhof steht. "Ohne die Paten geht es nicht", sagt sie. Jeden Tag werden hier die Bücher sortiert und Ladenhüter wie uralte Reiseführer oder Schwarten von Reader's Digest herausgenommen. Auch sei nicht jeder Nutzer so ordentlich, ohne Betreuung würde bald alles kreuz und quer liegen. "Aber so klappt es hervorragend, der Bücherschrank ist ein Dauerbrenner", sagt Gumbel.

Unter anderem Konsalki gibt es im Bücherschrank in Pullach. (Foto: Claus Schunk)

Das kann auch der Bürgermeister von Baierbrunn, Patrick Ott, bestätigen, der von seinen Rathausfenster aus den direkten Blick auf den Bücherschrank in einer bunt bemalten Telefonzelle hat. "Die ist im Dauerbetrieb, im Lockdown war es extrem", sagt Ott. Auch hier muss kontrolliert werden. "Am Anfang hatten religiöse Gruppen versucht, ihre wilden Theorien zu verbreiten", sagt er. Die Bücher, die der Bürgermeister selbst reingestellt hat - Grass, Walser und ein paar Comics - haben längst Abnehmer gefunden. Derzeit kann man in der Baierbrunner Telefonzelle den "Medicus" oder einen Simmel mitnehmen - und viel über Baby-Ernährung und Trennkost lernen.

© SZ vom 30.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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