NS-Geschichte:Historische Kehrtwende

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Bei der Enthüllung der Max-Isserlin-Straße: (von links) Peter Brieger, Gabriele Müller, die Präsidentin der Kultusgemeinde von München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, Raphael Isserlin, Franz Joseph Freisleder und Klinik-Vorstand Martin Spuckti. (Foto: Claus Schunk)

Mit der Umbenennung einer Straße tritt der jüdische Arzt Max Isserlin an die Stelle von Anton von Braunmühl, der in "Euthanasie"-Verbrechen verstrickt war. Charlotte Knobloch nennt die Namensgebung in Haar beispielhaft

Von Bernhard Lohr, Haar

Traudl Vater steht direkt unter den mit einem weißen Tuch verhängten zwei Straßenschildern. Es regnet. Die Teilnehmer der kleinen Feier an der Ecke zur Vockestraße in Haar ducken sich unter Regenschirme. Die 78-jährige Vater blickt kurz nach oben. "So viele Jahre", sagt sie nur.

Seit 1980 wohnte sie an der Von-Braunmühl-Straße in Haar. Fast so lange fragte sie sich, warum ein früherer Ärztlicher Direktor der Heil- und Pflegeanstalt, der in die "Euthanasie"-Verbrechen der NS-Zeit verstrickt war, derart geehrt worden war. Sie kämpfte für eine Umbenennung. An diesem Freitag ist sie am Ziel.

Für Vater ist es ein schöner Tag. Als das Tuch weg ist, taucht über dem alten Schild mit dem durchgestrichenen Namen das neue auf: Vaters Straße ist nun offiziell dem Pionier der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bayern, Max Isserlin (1879-1941), gewidmet. Isserlin leitete seit 1925 die Heckscher Nervenheil- und Forschungsanstalt in München und gründete 1929 mit Hilfe von August Heckscher ein neuropsychiatrisches Kinder- und Jugendhaus.

Aufgrund seiner jüdischen Abstammung wurde er 1933 aus dem Staatsdienst entlassen. Bis zum Entzug seiner Approbation im Jahr 1938 leitete er das Kinderkrankenhaus. 1939 floh er nach England, wo er 1941 starb.

Aus London reist der Enkel an

Was am Freitag an einer zugigen Straßenecke auf dem Gelände des Isar-Amper-Klinikums (IAK) geschieht, findet Beachtung weit über Haar hinaus. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, sagt bei einem kurzen Festakt im benachbarten Feuerwehrhaus "Respekt, was heute passiert". Es sei "beispielhaft".

Wenn in Zeiten, in denen "der Judenhass wieder sein hässliches Haupt erhebt", einem vergessenen jüdischen Arzt seine verdiente Ehre zuteil werde, dann sei das bedeutsam. Eine Persönlichkeit, ohne die die Heckscher Kliniken nicht existieren würden und die "die Nachwelt in besonderer Weise inspiriert" habe, werde sichtbar. Knobloch würdigt als "ungeheure Leistung", dass der Gemeinderat einstimmig die Namensgebung beschloss.

Jahrzehnte ging nichts voran. Am Ende zogen in Haar alle an einem Strang, Gemeinde, Bezirk Oberbayern als Träger der Klinik und das IAK. Bürgermeisterin Gabriele Müller (SPD) lobt am Freitag den neuen Mut zur "Klarheit und Wahrheit" im Umgang mit der NS-Zeit.

Der eigens aus London angereiste Enkel des Namensgebers, Raphael Isserlin, hält auf Deutsch eine kurze Rede und gibt wieder, was sein Großvater zu dem Ereignis nach all den Anfeindungen, die er erlebte, sagen würde. "Wer hätte das für möglich gehalten." Das wären seine Worte, sagt er und reicht die Hand zur Versöhnung. "Was uns verbindet, ist mehr, als was uns trennt."

Die Begegnung mit Raphael Isserlin ist ein besonderes Ereignis für Franz Joseph Freisleder, den Ärztlichen Direktor der Heckscher Kliniken. Freisleder hat sich seit 2015 für eine Max-Isserlin-Straße eingesetzt. Dass die nun in Haar entsteht, erfreut ihn in mehrfacher Hinsicht. Im April wird an der Straße der Neubau einer Heckscher Klinik für schwerstkranke Kinder und Jugendliche eröffnet. "Die Kinder kommen nach Haar zurück", sagt Freisleder. Eine Klinik an einer Von-Braunmühl-Straße: für ihn schlicht unvorstellbar.

Der stellvertretende Bezirkstagspräsident Rainer Schneider (FW) und der Ärztliche Direktor am IAK, Peter Brieger, versichern, dass die Aufarbeitung der NS-Verbrechen weitergeht. Mit dem Straßenschild verschwand die Galerie von Briegers Vorgängern, die im IAK-Verwaltungsgebäude hing und wo auch das Konterfei Anton Edler von Braunmühls seinen Platz hatte.

An der Stelle hängt jetzt ein Poster, auf dem Mitarbeiter und Besucher der Klinik aufgerufen werden, sich zu äußern, wie sie mit dem dunklen Erbe umgehen würden. Über das "Spurensuche"-Theaterprojekt befassen sich seit längerem Schüler des örtlichen Ernst-Mach-Gymnasiums mit Haars NS-Vergangenheit. 65 Mal wurde das Stück in Deutschland, England und Irland aufgeführt. Vier Schüler sind am Freitag bei dem Termin dabei und verfolgen die Reden. Bella aus der 9. Klasse sagt, es sei "sehr bewegend, den Enkel von Herrn Isserlin zu hören".

© SZ vom 02.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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