Musiktheater:Der Schrecken als Musical

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Verkörpern ein Liebespaar in schlimmen Zeiten an einem schlimmen Ort: die Musical-Darstellerin Finola Schulze und Jens Emmert bei der Vorstellung von "Villa Haar". (Foto: Claus Schunk)

Mit der Eigenproduktion "Villa Haar" wagt sich das Kleine Theater an einen Spagat zwischen Erinnerungskultur und Unterhaltung. Das Stück erzählt eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Mordprogramms in einer Psychiatrieklinik - in einem Genre, das eigentlich ein Happy-End erwarten lässt.

Von Udo Watter, Haar

Menschlichkeit und Wahnsinn, das Schöne und das Schreckliche - man muss kein elegisch gestimmter Dichter sein wie Rilke ("Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang"), um zu erahnen, dass das eine oft ins andere mündet. Der heutige Jugendstilpark in Haar war lange ein Teil der Heil- und Pflegeanstalt Haar-Eglfing und als solcher ein Ort, der Anfang des 20. Jahrhunderts mit hehren und fortschrittlichen Intentionen für psychisch Kranke und Menschen mit Behinderung gegründet wurde. "Eigentlich war das ein zutiefst menschliches Projekt", sagt Matthias Riedel-Rüppel, Intendant des Kleinen Theaters Haar, das 1912 als Gesellschaftshaus am Klinikgelände seine Pforten öffnete.

Die zutiefst unmenschliche Phase, die freilich darauf während der NS-Zeit folgte - und welche die Zwangssterilisation und das unter dem Euphemismus "Euthanasie" bekannte Mordprogramm inklusive der Einrichtung von tödlichen "Hungerhäusern" für Patienten 1942 bis 1945 beinhaltete - wirft dunkle Schatten auf die Geschichte der Institution. Das Kleine Theater Haar thematisiert dieses schreckliche historische Kapitel jetzt mit einer erstaunlichen künstlerischen Eigenproduktion: dem Musical "Villa Haar."

Die Geschichte spielt im Jahr 1943, und im Mittelpunkt steht die Liebe zwischen zwei Insassen der Anstalt. "Ein Format, das auf den ersten Blick nicht so angemessen erscheint", wie Riedel-Rüppel bei der Vorstellung des Musical-Projekts im Jugendstilsaal des Kleinen Theaters zugibt. Er spricht von einer Art "Genre-Konflikt", denn Musicals neigen ja - obgleich manchen durchaus dramatische Elemente innewohnen - generell zum Versöhnlichen und zum Happy-End.

Gleichwohl hat sich doch aus verschiedenen Begegnungen, Inspirationen und historischen Recherchen die Idee entwickelt, das schwere historische Thema als populäres theatrales Ereignis zu inszenieren und das Wagnis einzugehen, den Spagat zwischen Erinnerungskultur und Unterhaltung zu schaffen.

Komponist und Librettist: Thomas Erich Killinger. (Foto: Claus Schunk)

Für die Kompositionen und das Buch (Libretto) zeichnet Thomas E. Killinger verantwortlich, der mit Riedel-Rüppel das Projekt wesentlich initiiert hat. Der gebürtige Kölner, der das Kleine Theater von seinen Showauftritten als Begleit-Pianist kennt, ließ sich bei der musikalischen Umsetzung unter anderem vom mehrstimmigen Satzgesang der Comedian Harmonists inspirieren, zudem von John Williams' Solo-Geigenarrangements für "Schindlers Liste". Eine üppige Orchestrierung schien ihm angesichts des Themas unangemessen. "Aus dramaturgischen Gründen", wie er sagt, "nicht aus Kostengründen". Er setze mehr auf schlanke Klänge und eine subtile Herangehensweise.

Im Fokus der Handlung stehen die junge Emma und der Soldat Falk von Blumberg, der sich weigert, einen Erschießungsbefehl auszuführen. Beide sind als Patienten in Haar eingeliefert, beide sind die Kinder hochrangiger NS-Militärgrößen und beide werden Zeugen furchtbarer Dinge, die sich dort abspielen. Verantwortlich dafür sind der ärztliche Direktor (das historische Vorbild ist Hermann Pfannmüller), eine maliziöse Krankenschwester und die "vier Wahnsinnigen": vier Pfleger, die ihre grotesk-brutalen Methoden auch gegen Kinder richten. Killinger hat überdies unterschiedliche Plot- und Zeitebenen kreiert, so gibt es einen zusätzlichen Handlungsrahmen, der 2018 spielt, mit der alt gewordenen Emma und einer jüngeren Ärztin.

Das Musical ist ein "Herzensprojekt" für Theaterchef Matthias Riedel-Rüppel. (Foto: Claus Schunk)

"Das hat mich gereizt", sagt Regisseur Udo Schürmer, "diese verschiedene Ebenen, die sich auch musikalisch unterscheiden." Er betont, dass es zwar ein "sensibler Stoff" sei, es aber eben auch um "Unterhaltung gehe und man kein "dokumentarisches Musical" zeigen wolle. Es geht darum, zwischenmenschliche Konflikte in dieser speziellen Zeit, an einem speziellen Ort darzustellen - der Schrecken stelle sich dann von selbst und über die Geschichte und Emotionen ein.

"Es gibt Showelemente. Aber manchmal bleibt einem dabei das Lachen im Halse stecken"

Der Schrecken, der Wahnsinn produziert freilich auch komische Momente, die Platz finden sollen. "Es gibt Showelemente. Aber manchmal bleibt einem dabei das Lachen im Halse stecken", so Killinger. Momente des Entertainments und grotesk-befreiende Szenen schaffen es so vielleicht, dass die dramatische Realität jener Zeit, in der ein Unrechtsstaat die "Vernichtung unwerten Lebens" anordnete, eben auch als Musical erlebbar ist.

Finola Schulze und Jens Emmert, die beiden jungen Darsteller, die das Liebespaar Emma und Falk spielen, sind ebenfalls zur Vorstellung des Projekts nach Haar gekommen und demonstrieren eindrucksvoll ihr sängerisches Können mit zwei Songs, begleitet vom Pianisten Florian Daniel. Schulze singt vom Schlaf als "Retter und Tröster", der die Schmerzen der Seele löse und sie zärtlich streichle. Emmert von seinem traumatisch-bewegenden Erlebnis als Soldat, der Teil eines Erschießungskommandos ist. Das ist recht eingängig und berührend, auch textlich ambitioniert.

"Ein Traumpaar" schwärmt Riedel-Rüppel über die beiden jungen Protagonisten. Für ihn, der seit 2015 Intendant in Haar ist, und sich beim Blick aus dem Büro - etwa zu einem der ehemaligen "Hungerhäuser" oder zur einstigen notorischen "Kinderfachabteilung" - schon lange merkwürdig betroffen fühlte, ist dieses Musical ein "Herzensprojekt". Eigentlich sei die Produktion ja fast "zu groß" für sein Haus, dessen Träger der Bezirk Oberbayern, die Gemeinde Haar und das Sozialpsychiatrische Zentrum sind.

Der Stoff und seine durchaus mutige Umsetzung im Musical sind freilich dafür geschaffen, überregionale Aufmerksamkeit zu erregen und natürlich auch - in kreativer Form - der Erinnerungskultur Tribut zu zollen. Die nicht ganz so schwermütig-dramatischen Entertainment-Komponenten bleiben die Verantwortlichen bei den vorgestellten musikalischen Auszügen zwar diesmal noch ein wenig schuldig, aber man darf davon ausgehen, dass es in der "Villa Haar" auch mal leichtgängiger und natürlich romantisch zugeht.

Die Uraufführung ist für 18. Januar 2024 im Kleinen Theater angesetzt, exakt 84 Jahre nach der ersten Deportation von Patienten aus Haar-Eglfing in die Tötungsanstalt Grafeneck. Weitere Aufführungen im Münchner Osten folgen, zudem stehen schon diverse Gastspiele an anderen Orten in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen fest. "Wir gehen mit unserem Musical auf die Reise", sagt Riedel-Rüppel.

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