Patienten-Morde:Ein Stein für jedes Kind

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"Das ist ein Abschluss - für ihn, aber auch für mich", sagt Gertrud Creighton (in der Mitte mit ihrem Bruder Wilhelm Kramer und Claudia Clauß) über die Gedenkstätte, die auch an ihren ermordeten Cousin erinnert. (Foto: Sebastian Gabriel)

Ein neues Denkmal im Haarer Jugendstilpark erinnert an die Mädchen und Buben, die dem Tötungsprogramm der Nazis in der damaligen Heil- und Pflegeanstalt zum Opfer gefallen sind. Gestaltet haben es Schülerinnen und Schüler, zur Einweihung kommen auch viele Angehörige.

Von Laura Geigenberger, Haar

Rund und hellgrau ist der Stein, den Gertrud Creighton in den Händen hält. Seine glatte Oberfläche zieren aufgemalte Blumen und, in schwarzer Schrift, der Name sowie das Geburts- und Sterbedatum ihres Cousins: "Wilhelm Gögel, *01.11.1932, †15.04.1943". Behutsam trägt ihn die alte Frau zu dem neuen Denkmal, das gerade im Haarer Jugendstilpark eingeweiht wurde, und legt ihn darauf ab. Dann spricht sie über Wilhelms Geschichte.

Als sie drei, ihr Bruder Willi Kramer vier Jahre alt ist, verschwindet der Bub plötzlich aus ihrer Familie. Wohin, das sagt man ihnen nicht. "Aber wir haben uns das immer gefragt. Wir haben immer noch Erinnerungen an ihn, er hat viel gelacht", erzählen die Geschwister. Allerdings sei Wilhelm auch rastlos gewesen und habe länger zum Denken gebraucht als Gleichaltrige. Wohl deshalb gaben seine Eltern ihn in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar - zur "Behandlung", wie es damals hieß. Er kam nie zurück. Fast 80 Jahre der Ungewissheit vergehen, dann entdecken Creighton und Kramer den Namen ihres Cousins in einem Gedenkbuch und erfahren: Wilhelm war eines von mindestens 337 Kindern, die zwischen 1940 und 1945 der sogenannten "Kindereuthanasie" zum Opfer fielen - der systematischen Tötung von geistig und körperlich behinderten Minderjährigen durch die Nationalsozialisten.

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Die Anstalt in Haar spielte eine führende Rolle bei der systematischen Vernichtung von Menschen, die aufgrund von Krankheiten oder Behinderungen von den Nazis als "nicht lebenswert" angesehen wurden. 4000 Patienten der Einrichtung wurden deportiert und ermordet, zu Tode gehungert oder durch Medikamente getötet. Der Fanatismus des damaligen Anstaltsdirektors Hermann Pfannmüller - ein Verfechter der "Rassenhygiene" - machte dabei auch nicht vor seinen pädiatrischen Patienten Halt: Im Oktober 1940, nur wenige Monate, nachdem die Tötung erwachsener Patienten begonnen hatte, ließ er in seiner Anstalt die bayernweit erste "Kinderfachabteilung" einrichten. 55 Monate lang wurden dort Kinder und Jugendliche jeglichen Alters mit grausamer Effizienz umgebracht. Die meisten, darunter auch der zehnjährige Wilhelm Gögel, starben an Vergiftungen. Andere kamen durch Impfexperimente ums Leben, verhungerten oder wurden bis zum Tod vernachlässigt.

Klinik-Geschäftsführer Franz Podechtl räumt ein, dass das Schicksal der ermordeten Kinder viel zu lange verschwiegen wurde. (Foto: Sebastian Gabriel)

Sowohl in betroffenen Familien als auch in Haar sei zu lange zu den Schicksalen der Kinder geschwiegen worden, räumt Martin Podechtl, der Geschäftsführer des heutigen KBO-Klinikums, ein. Doch nun sei der Zeitpunkt gekommen für eine "ganz neue Schicht von Erinnerung und ganz neue Perspektiven". Angestoßen werden soll die Aufarbeitung des wohl dunkelsten Kapitels der Geschichte der Gemeinde durch das neue Denkmal, das am Montag an der Casinostraße 6 vor rund 300 Schülern und Lehrern, Bürgermeister Andreas Bukowski (CSU), Mitarbeitern der Klinikleitung und Angehörigen getöteter Kinder feierlich enthüllt wurde: drei kniehohe Gabionen, gefüllt mit 337 handbemalten Steinen. Auf jedem von ihnen stehen Name und Lebensdaten eines ermordeten Kindes. Es ist das erste Mal, dass alle Namen der "Reichsausschusskinder", wie sie damals nach einem Fachterminus abfällig genannt wurden, gemeinsam am Ort des Geschehens sichtbar gemacht, ihre Geschichten öffentlich thematisiert werden.

Gestaltet worden ist das Denkmal maßgeblich von Schülerinnen und Schülern. Sie halten bei der Gedenkfeier Rosen in der Hand. (Foto: Sebastian Gabriel)

Geschaffen wurde das neue Mahnmal von Kindern für Kinder - es ist das Ergebnis einer Kooperation der Haarer Fachoberschule (FOS) mit der Mittelschule Haar, dem Ernst-Mach-Gymnasium Haar, der Bayerischen Landesschule für Körperbehinderte in München sowie den Staatlichen Berufsschulen München Land und Dachau. Nicole Wohnhas, Lehrerin an der Haarer FOS und Rundgangsleiterin in der KZ-Gedenkstätte Dachau, hat das Projekt angestoßen. "Die Inspiration war, dass nur wenige wissen, dass die Kindereuthanasie ein großes Kapitel in der Geschichte der Gemeinde ist", sagt sie. Deshalb habe sie das Projekt auch unter das Motto "Gemeinsam erinnern" gestellt. "Wir wollten, dass die Kinder nicht in Vergessenheit geraten, ihnen ihre Namen zurückgeben und sie für alle sichtbar machen." Dafür brauche es Denkmäler, aber auch eine gesellschaftliche Aufklärung - "und die beginnt in den Schulen vor Ort", ist die Pädagogin überzeugt.

Über Monate hinweg habe sie deshalb in diesem Jahr ein zweistufiges Schulprojekt ausgearbeitet. Mithilfe eigens konzipierter Unterrichtspläne und -materialien sollten sich Schülerinnen und Schüler an den beteiligten Schulen mit der NS-Zeit und speziell der "Kindereuthanasie" in Haar auseinandersetzen. Anschließend hatten sie die Möglichkeit, Gedenksteine für die jungen Opfer zu gestalten, welche zu einer Dauerinstallation auf dem ehemaligen Klinikgelände zusammengesetzt und der Bevölkerung zugänglich gemacht werden sollen.

Einen Großteil der Verantwortung für das Projekt haben dabei die elften Klassen der FOS übernommen, erzählt die 17-jährige Schülerin Meryem Ergün: "Wir haben zum Beispiel die Lehrpläne und Arbeitsblätter zusammengestellt und die Opferlisten nach Kindern aus Haar durchsucht." Im Mai präsentierte sie mit drei Mitschülerinnen dem Gemeinderat das Projekt. "Der hat uns sofort seine Unterstützung zugesagt." Eine weitere treibende Kraft war Wolfgang Schwarzenberger von der Berufsschule Dachau, der wie Nicole Wohnhas als Rundgangsleiter an der KZ-Gedenkstätte tätig ist. Sie besuchten gemeinsam das Holocaust-Denkmal im tschechischen Pilsen, das als Inspiration für die Gedenkstätte in Haar diente.

Eine einfache Aufgabe war die Beschäftigung mit der Thematik für die Schüler keineswegs. "Da ist in der Tiefe eine große Angst vor dieser alten Zeit, weil dieser Hass damals so selbstverständlich war, aber heute unvorstellbar ist", erzählt etwa der 17-jährige Dachauer Rocco Sonhüber. Aber: "Genau deshalb ist es wichtig, dass wir auch solche unangenehmen Gefühle nicht verdrängen. Damit sowas nicht noch einmal passieren kann." Elftklässlerin Elsa Streitenberger von der Haarer FOS gesteht, dass ihr der Umfang des NS-Verbrechens in Haar anfangs gar nicht bewusst gewesen sei. "Ich habe erst gemerkt, wie viele Menschen da gestorben sind, als ich die Listen mit den Namen gesehen und meinen Stein bemalt habe. Das hat mich dann wirklich schockiert." Umso mehr freue sie sich, ein Andenken geschaffen zu haben, das für immer bestehen und an die Schicksale der Kinder erinnern könne.

Die Gedenkstätte besteht aus Gabionen mit bemalten Steinen, auf denen Namen und Lebensdaten der ermordeten Kinder stehen. (Foto: Sebastian Gabriel)

Für Angehörige wie Claudia Clauß, deren Großcousin Lorenz "Lenzi" Dietl 1945 als Siebenjähriger im Klinikum starb, sei das Wissen, dass seine Geschichte nun in Haar aufgearbeitet wird, "unheimlich befreiend". Sichtlich ergriffen von dem liebevoll gestalteten Denkmal ist auch die 83-jährige Gertrud Creighton, als sie den Stein für ihrem Cousin darauf niederlegt. "Ich könnte vor Freude weinen, dass er jetzt hier einen Platz bekommen hat, dass er nicht mehr vergessen werden kann", sagt sie leise. "Das ist ein Abschluss - für ihn, aber auch für mich."

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