Natur in Bayern:Insekten-Highways am Straßenrand

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Wo früher regelmäßig abgemäht wurde, sollen jetzt Insekten was zu futtern finden: Auch kleine Flächen werden genutzt. (Foto: N.P.JØRGENSEN)

Blühstreifen und Öko-Flächen sollen in Bayern das Artensterben aufhalten helfen. Dafür muss aber auch die Belastung durch Giftstoffe zurückgehen.

Von Ingrid Hügenell

Einmal um den ganzen Erdball reicht die Fläche, die entlang von Bayern Straßen erblühen soll. Entlang von etwa 20 000 Kilometern Bundes- und Staatsstraßen im ganzen Freistaat soll das Begleitgrün ökologisch aufgewertet werden. Da das auf beiden Straßenseiten passiert, ergibt sich die Strecke von 40 000 Kilometern - der Umfang der Erde am Äquator. Das Projekt soll den dramatischen Insektenrückgang in Deutschland mildern helfen. Es ist auch eine Folge des erfolgreichen Volksbegehrens zur Rettung der Artenvielfalt in Bayern im Jahr 2019.

Die Flächen an den Straßen haben ein großes Potenzial - sie sind weitgehend ungestört und unterliegen keinem Nutzungs- oder Erholungsdruck, sie werden nicht gedüngt, es kommen keine Pflanzenschutzmittel zum Einsatz. "Wir machen Straßenböschungen zu Highways für Bienen, Schmetterlinge und Co.", verspricht die für die Straße zuständige bayerische Verkehrsministerin Kerstin Schreyer (CSU). Schon 2019 begann das Pilotprojekt "Bienen-Highways" der Bauverwaltung mit 26 Blühstreifen entlang von Radwegen an Bundes- und Staatsstraßen. Nun wird es ausgeweitet, weitere Flächen werden einbezogen. Entstehen soll so ein Verbund von Lebensräumen. Wie die Straßen Städte und Dörfer der Menschen verbinden, sollen die ökologisch wertvollen Flächen Biotope verbinden, in denen Insekten und Vögel, Amphibien und Reptilien leben können. Aus 7000 Einzelflächen kommen so 13 000 Hektar zusammen.

Spezielle Flächen brauchen Spezialpflege. Der Balkenmäher schneidet das Gras ab, häckselt es aber nicht. So können Tiere von der Fläche fliehen - ein wesentlicher Unterschied zum Mulchmäher. Hinten links das Gerät, das das Heu zu gleichmäßigen Reihen zusammenfasst, rechts die Ballenpresse. (Foto: Claus Schunk)

Bei einem Termin in der Gemeinde Höhenkirchen-Siegertsbrunn im Landkreis München hat sich Schreyer das Projekt kürzlich angeschaut und der Öffentlichkeit vorgestellt. Heinz Dirnhofer von der Landesbaudirektion erläutert dabei, wie die Flächen gepflegt werden sollen. Denn natürlich muss die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer gewahrt bleiben. Deshalb wird so gemäht, dass die Leitpfosten weiterhin sichtbar und die Entwässerungsgräben durchgängig bleiben. In etwa drei bis vier Meter Entfernung vom Bankett aber wird seltener gemäht, hier können sich Wildpflanzen ausbreiten.

Daneben gibt es "Auswahlflächen", die sehr extensiv gepflegt werden, nur einmal jährlich oder sogar nur alle zwei Jahre werden sie gemäht. 1300 Hektar wurden bisher identifiziert, die sich dadurch auszeichnen, dass auf ihnen gefährdete oder geschützte Pflanzen und Tiere schon vorkommen oder sich ansiedeln können. Einige sind als offene Feld-, Kies- oder Sandflächen für Wildbienen besonders wichtig. Für die Flächen werden Pflegepläne erarbeitet, die auf den Standort und den Bewuchs abgestimmt sind. Damit die Kommunen die Flächen an ihren Straßen ebenfalls ökologischer gestalten können, ist das Projekt in einer 50-seitigen A4-Broschüre zusammengefasst worden. Das Ministerium hat sie an alle Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte in Bayern verschickt - quasi als Vorlage.

Ministerin Kerstin Schreyer (vorne) und ihre Gruppe betrachten von einer Straßenbrücke aus die Öko-Flächen. (Foto: Claus Schunk)

Gemäht werden müssen sie, erklärt Sabine Lallinger von der Landesbaudirektion auf einer der Flächen, die direkt an der Staatsstraße 2078 bei Höhenkirchen liegt. Denn überließe man sie sich selbst, würden sie schnell mit Büschen und Bäumen zuwachsen. Offene Gebiete seien aber viel artenreicher als Wälder, erklärt Lallinger.

Die Gruppe um Kerstin Schreyer schaut nun zu, wie der Mitarbeiter einer Landschaftspflege-Firma mit einem Balkenmäher das hohe Gras auf der Fläche umschneidet. Dann wird es von einer weiteren Maschine zu ordentlichen Reihen zusammengefasst und von einer dritten zu Ballen gepresst und abgefahren. Das ist recht aufwendig. Die rund 2000 Mitarbeiter der Straßenmeistereien könnten diese Aufgabe nicht übernehmen, weshalb die Arbeiten an Landwirte, Landschaftspflegeverbände oder Spezialfirmen übertragen werden - ein ganz neuer Markt werde sich bilden, heißt es beim Termin.

Was mit den Ballen passiert, sei noch unklar, sagt Lallinger. Womöglich werden sie in Biogasanlagen vergoren. Am besten wäre es, man könnte sie zu Dauerhumus umwandeln. Der wird nur sehr langsam abgebaut, Kohlendioxid würde darin lange festgelegt - das wäre auch ein Beitrag zum Klimaschutz.

Noch so viele ökologische Flächen an Straßen werden jedoch nicht gegen das Artensterben helfen, solange Belastung des Landes durch Pestizide und Überdüngung nicht zurückgeht. Das sagt Andreas Segerer, Schmetterlingsexperte und stellvertretender Leiter der Zoologischen Staatssammlung München. Er findet das Projekt "grundsätzlich unbedingt gut", erklärt er auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung. Denn es wirke dem entgegen, was Experten "Verinselung der Habitate" nennen - Lebensräume sind häufig voneinander getrennt, durch große Felder oder eben durch Straßen. Wie früher in abgeschnittenen Bergtälern die Menschen, können so die Tiere einer Art nicht zueinander kommen. Viele laufen oder fliegen nicht sehr weit. Dadurch besteht die Gefahr der genetischen Verarmung. Wenn in einem Habitat eine Tierart verloren geht, kann es nicht wieder besiedelt werden.

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(Foto: Claus Schunk)

Die gelben Blüten des Rainfarns leuchten von Juni bis September an Wegrändern und in Wiesen. Die alte Heilpflanze wurde früher auch zum Färben verwendet. Sie dient den Raupen einiger Schmetterlinge als Futterpflanze. Wie alle hier vorgestellten Pflanzen kann man sie sich auch in den eigenen Garten holen - und mit ihr die Tiere, die von ihr leben. Der Rainfarn wächst wie hier im Bild auch direkt an der Leitplanke gut.

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(Foto: Claus Schunk)

Hummeln fliegen auf die ungewöhnlichen, aber sehr attraktiven rosa Blüten der Wilden Karde, die bis zu zwei Meter hoch werden kann. Und wenn die Samen reifen, kommen Vögel wie Stieglitze, die sie gerne fressen. Deshalb sollten die Samenstände über den Winter stehen bleiben. Die Karden wurden früher zum Kämmen von Wolle verwendet. Man kann sie aber auch in Trockengestecke einarbeiten.

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(Foto: Ingrid Hügenell)

Wie der Rainfarn, der an Feldrainen vorkommt, trägt auch die Wegwarte ihren Standort im Namen. Ihre blauen Blüten sind momentan noch bis in den Herbst hinein an vielen Straßen zu sehen, sie öffnen sich nur in den Morgenstunden bis etwa 11 Uhr und sind bei Wildbienen und Schwebfliegen äußerst beliebt. Die Wegwarte ist auch ein Wildgemüse und eng verwandt mit Chicorée und Radicchio. Die Pflanze wächst auch auf nährstoffreicheren Böden, wo sie recht hoch werden kann. Im Bild saugt eine Schenkelbiene Nektar an der Wegwarte.

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(Foto: Ingrid Hügenell)

Die Wilde Möhre bildet große, weiße Blütenteller, in deren Mitte sich häufig eine dunkle, manchmal rosafarbene Einzelblüte befindet. Sie wird von Botanikern als Scheininsekt gedeutet. Die Blüten sind bekannt als regelrechte Landebahnen für eine Vielzahl von Insekten - Wildbienen, Käfer, Fliegen, Schwebfliegen und viele andere finden sich darauf ein. Abends kann man an der Unterseite der Blüten oft Insekten entdecken, die sich in die Stiele der Dolde hinein geklemmt haben, um dort geschützt die Nacht zu verbringen. Hier hat sich ein Gefleckter Schmalbock auf der Blüte niedergelassen.

Dagegen helfen die Blühflächen entlang der Straßen gut, wenn auf ihnen, wie bei den Insekten-Highways, heimische, zum Standort passende Pflanzen wachsen, sagt Segerer. Sie vernetzen die Lebensräume und erlauben den Tieren zu wandern. "Das ist ein Baustein, aber nicht der entscheidende." Das größere Problem für die Insekten und die Lebensgemeinschaften überhaupt sei die Belastung durch Pestizide und durch die Überdüngung mit Stickstoff. "Beides ist gleich verheerend", sagt der Zoologe. Durch den Nährstoffeintrag verschwänden die besonders artenreichen Magerstandorte. Die meisten Pestizide würden verdriftet und machten sogar in Naturschutzgebieten den Tieren den Garaus. 63 Prozent des Stickstoffeintrags stammen Segerer zufolge aus der Landwirtschaft, das restliche Drittel kommt aus Autoabgasen und der Industrie.

Segerer nennt sich selbst den "Lauterbach des Artensterbens", einen Mahner und Warner vor einem "gigantischen Desaster". Das nämlich stehe der Menschheit bevor, wenn erst einzelne kleine, dann auch große Ökosysteme kippen und schließlich die Lebensgrundlagen der Menschen selbst gefährdet werden. Der Verlust der Biodiversität sei noch bedrohlicher als der Klimawandel. Dennoch sagt Segerer: "Aufgeben ist keine Option. Jeder tut halt, was er kann."

© SZ vom 07.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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