Zwischen Welten:Unter anderen Umständen

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Emiliia Dieniezhna (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))

Viele ukrainische Geflüchtete sehnen sich nach ihrer Heimat. Aber je länger der Krieg dauert, desto mehr wünschen sie sich auch eine berufliche Perspektive in Deutschland, das beobachtet unsere Kolumnistin in ihrem Bekanntenkreis. Ein neues Gesetz könnte helfen.

Von Emiliia Dieniezhna

Es gibt ein altes Märchen, das alle Ukrainer von Kindheit an im Kopf haben. Es ist das Märchen über den Fausthandschuh, und es geht so: Ein alter Mann hat den Fausthandschuh im Winter im Wald verloren, aber Tiere haben ihn gefunden und sich in ihm versteckt, um sich vor der Kälte zu schützen. Das Haus, in dem ich jetzt mit meiner Familie wohne, erinnert mich an dieses Märchen und diesen Fausthandschuh.

Eng, aber gemütlich - und sicher. So würde ich das Leben bei uns zu Hause beschreiben. Ich hatte das große Glück, mich mit meiner Tochter gleich zu Beginn des russischen Angriffskrieges in Deutschland in Sicherheit bringen zu können und sofort eine Bleibe in Pullach zu finden. Eine einheimische Familie hat uns das Haus zur Verfügung gestellt, dafür bin ich sehr dankbar. Inzwischen wohnt meine ganze Familie hier: vier Erwachsene und ein Kind.

Wenn wir so über unser Leben nachdenken, kommen uns mitunter Ideen in den Sinn, wie viel wir unter anderen Umständen in Deutschland erreichen könnten. Wir sind alle hoch qualifiziert, haben die besten Universitäten der Ukraine absolviert und zu Hause beachtliche Karrieren gemacht. Wir sind zwei Ingenieure, eine Lehrerin und eine Apothekerin. Also im Prinzip die Berufe, die in Deutschland gesucht werden und die die Ampelregierung mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz nun forcieren möchte.

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Fachkräfte werden in Deutschland dringend gebraucht, und mit diesem Gesetz soll es für ausländische Fachkräfte leichter werden, Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu bekommen und nach einiger Zeit eine sogenannte Niederlassungserlaubnis zu erhalten. Die priorisierten Berufe sind ganz unterschiedlich - von IT-Fachleuten bis zu Lehrerinnen oder Erziehern. Ich glaube, dass das neue Gesetz für viele ukrainische Geflüchtete ein Anstoß sein kann, schneller in den deutschen Arbeitsmarkt zu finden.

Meine Landsleute sind größtenteils akademisch ausgebildet. Insgesamt gibt es mehr als eine Million ukrainische Geflüchtete in Deutschland. Laut einer neuen Studie des ukrainischen Zentrums für Wirtschaftsstrategie und der Forschungsagentur Info Sapiens haben 70 Prozent von ihnen eine höhere Schulbildung.

Weil der Krieg seit fast zwei Jahren wütet, wird es immer schwieriger, ein Ende vorauszusagen. Deshalb denken immer mehr Ukrainer über ihre Zukunft und ihre berufliche Perspektive hier nach. Das neue Gesetz gibt ihnen genau diese Perspektive. Ich vermute, dass in den nächsten Monaten eine nicht geringe Anzahl meiner Landsleute die Gelegenheit nutzen wird, um sich hier eine berufliche Zukunft aufzubauen.

Nicht nur in meiner Familie, sondern auch in meiner Umgebung gibt es Ukrainer mit den unterschiedlichsten Berufen: Ingenieure für Solarenergie, Marketing-Fachleute und, und, und. Viele von ihnen sprechen zudem bereits sehr passabel Deutsch und lernen fleißig weiter. Ganz sicher werden sie auf dem Arbeitsmarkt sehr gefragt sein.

Dennoch habe ich ein wenig Bauchschmerzen dabei, denn was eine positive Entwicklung für den deutschen Arbeitsmarkt sein wird, könnte sich für die Ukraine einmal als großes Problem erweisen. Denn all diese jungen, gut ausgebildeten Menschen werden meinem Land fehlen, wenn der Krieg vorbei sein wird. Sie dann zu motivieren, in die Heimat zurückzukehren, wird sicher nicht leicht. Dem deutschen Fachkräftemangel würde das natürlich sehr entgegenkommen. Unter meinen Bekannten sehe ich jedenfalls ein großes Interesse, das neue Gesetz zu nutzen.

Emiliia Dieniezhna, 35, flüchtete mit ihrer damals vierjährigen Tochter Ewa aus Kiew nach Pullach bei München. Sie arbeitet ehrenamtlich für die Nicht-Regierungs-Organisation NAKO, deren Ziel es ist, Korruption in der Ukraine zu bekämpfen. Außerdem unterrichtet sie ukrainische Flüchtlingskinder in Deutsch. Für die SZ schreibt sie einmal wöchentlich eine Kolumne über ihren Blick von München aus auf die Ereignisse in ihrer Heimat.

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