Vaterstettener Geschichte:Wie aus einer Mittelalter-Schwaige eine Bauernsiedlung wurde

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In einer Ausstellung und einer dicken Broschüre erzählen Ursula Flitner und Brigitte Beyer die Historie des Vaterstettener Ortsteils Hergolding.

Von Alexandra Leuthner

Manchmal sei es der Blick von außen, der es einem leichter mache, den Dingen der Vergangenheit auf den Grund zu gehen, sagt Ulrike Flitner. Nun, als Auswärtige kann die Leiterin des Vaterstettener Gemeindearchivs nach 30 Jahren, die sie jetzt hier lebt, guten Gewissens nicht mehr bezeichnet werden. Doch wenn man ihr zuhört, kann man noch erkennen, dass die gebürtige Rheinländerin das "r" ein wenig anders rollt als diejenigen, die hier geboren sind, anders wohl auch, als die Nachkommen jener 16 Familien, die fast zur selben Zeit in den 1930er Jahren in den Ort Hergolding gezogen sind und ihn mehr oder weniger zu dem gemacht haben, was er jetzt ist.

Die Familien, die aus Franken, Baden-Württemberg, Niederbayern und Oberbayern stammten, kamen zunächst als Fremde in den Ort - waren von Nachbarn "auch nicht mit offenen Armen aufgenommen worden", erzählt Flitner. Dadurch aber habe sich bei den Neuankömmlingen "ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt, das heute noch da ist".

Für die 116 Seiten dicke Broschüre über "Höfe, Häuser und Flüchtlingsfamilien" in Hergolding, die die Archivarin gemeinsam mit der ehemaligen Vaterstettener Standesbeamtin Brigitte Beyer erstellt hat, hat sie ausgiebig mit den Nachkommen jener Familien geredet, hat Fotos gesammelt und sich ihre Geschichten erzählen lassen. Anhand von 21 Plakaten, die als Ausstellung von Mittwoch, 15. September, bis Freitag, 22. Oktober, im zweiten Stock der Vaterstettener Volkshochschule zu sehen sind, werden diese Geschichten beleuchtet.

Die Broschüre, die mehr schon ein kleines Buch ist, schließt eine Lücke im Wissen über die Vergangenheit der Gemeinde Vaterstetten, zu der Hergolding gehört. Der Ort liegt zwar im Zentrum der Großgemeinde, hat es jedoch im Gegensatz zu anderen Ortsteilen bisher nicht einmal zu einem eigenen Wikipediaeintrag gebracht - und dabei kamen seit dem Zweiten Weltkrieg in Franz Hollweck, Hermann Bichlmaier und Leonhard Spitzauer allein drei Vaterstettener Bürgermeister aus Hergolding.

Nun haben Brigitte Beyer und Ursula Flitner (von links, mit VHS-Chef Helmut Ertel) die Geschichte Hergoldings erforscht. (Foto: Gemeindearchiv vat./oh)

Bauernfamilien waren es, die in den dreißiger Jahren von einem Aufbauprogramm der Bayerischen Bauernsiedlung profitierten und in die hier in neu geschaffenen Höfe zogen. Immer noch ist ja Hergoldings Vergangenheit als eigenständiges Dorf durch seine Alleinlage mitten in der Flur zwischen Vaterstetten/Baldham im Süden und Südwesten, Parsdorf und Weißenfeld im Norden sowie dem Parsdorfer Hart und dahinter dem Anzinger und Eglhartinger Forst im Osten erahnbar. Aus der Schwaige Hergolding, deren Wurzeln bis ins elfte Jahrhundert zurückreichen, und die ein großes Landgut mit Milchvieh war, sowie aus jenen 16 Landwirtschaftsstellen hat sich das Dorf entwickelt.

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Bis zur Säkularisierung gehörte die Schwaige dem Kloster Ebersberg, nach 1810 ging sie dann durch verschiedene Hände, darunter die Familie Holly, die neben einigen Umbaumaßnahmen im Süden auch eine Dampfbranntweinbrennerei errichtete - die zwar nicht mehr in ihrer ursprünglichen Funktion, aber als Gebäude erhalten ist.

Der Landwirt Georg Kessler, dem die Schwaige danach gehörte, begann 1897 das Gut Hergolding auszubauen und ihm das Aussehen zu geben, das es noch heute hat. "Ein Pionier der einheimischen Landwirtschaft", sei er gewesen, schreiben Flitner und Beyer in ihrem mit viel Liebe und Ausdauer recherchierten Buch. "Durch die Einführung des Tiefpflügens und der Verwendung von Mineraldünger" habe er "unseren Landwirten auf der Schotterebene einen großen Fortschritt" gebracht.

"Angefangen haben alle als Milchbauern"

Mit den fordernden Bodenbedingungen der Schotterebene mussten sich auch die Nachfolger der Kesslers auseinandersetzen, jene 16 Familien die sich mit dem Nachweis eines "Bauernscheins", ihrer arischen Abstammung und bereits geborener Kinder - die Hofstellen waren als Erbhöfe gedacht - für die zwischen 1935 und 1937 geschaffenen Bauernstellen beworben. Drei Höfe wurden in die ehemaligen Gutsgebäude integriert, zehn wurden in Hergolding, einer in Baldham-Dorf und zwei auf dem Gebiet der heutigen Bayernbodensiedlung geschaffen.

Für 360 000 Reichsmark hatte die Bayerische Bauernsiedlung, so schreibt Flitner, das Gut dem jüdischen Kaufhausbesitzer Ernst Landauer abgekauft, der es 1926 erworben hatte. Der nationalsozialistischen Rassengesetze wegen war er gezwungen, es 1934 zu verkaufen. Den Differenzbetrag zu dem deutlich höheren Kaufangebot eines tschechoslowakischen Schuhfabrikanten konnte Landauer, der die Nazidiktatur in London überlebte, 1949 einklagen. 30 000 Mark mussten die Hergoldinger Siedler an ihn zahlen, 60 000 die Nachfolgegesellschaft der Bayerischen Bauernsiedlung, aus der mittlerweile die Bayerische Landessiedlung geworden war.

All das erfährt man aus der Broschüre, die im Vaterstettener Rathaus ausliegt, darüber hinaus aber auch viele Einzelheiten über die Familien, so etwa, dass das erste Telefon Hergoldings bei Familie Hollweck stand, die aus Niederbayern gekommen und in das ehemalige Gutshaus eingezogen war. 1948 wurde Franz Hollweck, der auf dem Bewerbungsfoto seiner Eltern Franz und Maria als kleiner Bub zu sehen war, zum ersten frei gewählten Nachkriegsbürgermeister der Gemeinde Parsdorf-Vaterstetten und blieb es bis 1972.

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Auf den Seiten begegnet der Leser beispielsweise auch der Familie Wieser, die von nicht ganz so weit herkam und in München lebte, bevor das Ehepaar August und Rosalie nach Hergolding zog. Augustin Wieser, der Enkel, ist heute Vorstand der Freiwilligen Feuerwehr Parsdorf-Hergolding. Der Hof der Wiesers hat sich, auch das erfährt man aus der Chronik, wie fast alle Höfe des Orts verändert, seit 1992 wird dort keine Viehwirtschaft mehr betrieben.

"Angefangen haben alle als Milchbauern, heute gibt es eine Pension, Ladengeschäfte, noch einen Landwirt und eine Fresseraufzucht", erzählt Flitner, es sei interessant gewesen, den Vergleich zwischen früher und heute anzustellen. Neben Bauernfamilien fanden auch Flüchtlinge in Hergolding eine neue Heimat, wie die Familie von Hildegard und Georg Huber, die vom Chiemsee stammten und nach mehreren beruflich bedingten Umzügen 1945 aus der damaligen Provinz Pommern nach Hergolding fliehen mussten.

Im November soll die Ausstellung aus dem VHS-Gebäude ins Rathaus umziehen und dort - wenn die Entwicklung der Corona-Pandemie es zulässt - mit einer Vernissage und im Beisein der Vertreter der Familien eröffnet werden, die in Ausstellung und Broschüre vorgestellt werden.

Die Ausstellung "Hergolding, gestern und heute " ist bis zum 25. Oktober im VHS-Bildungszentrum an der Baldhamer Straße während der üblichen Geschäftszeiten und vom 28. Oktober an im Lichthof des Rathauses Vaterstetten zu sehen. Das Buch zur Ausstellung kann an der Pforte des Rathauses und in der Bücherei erworben werden.

© SZ vom 15.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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