Nationalsozialismus:Auf den Spuren der Verfolgten

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Die Schülerinnen Ida Hofmann und Esma Cayir (r.) haben monatelang sperrige Akten durchforstet. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Im Max-Mannheimer-Studienzentrum zeichnen Schüler aus Darmstadt das Leben von Menschen nach, die sich gegen das NS-Regime wehrten. Benotet wird ihre Arbeit nicht - und das finden sie auch gut so.

Von Lisa Nguyen, Dachau

Hafttagebücher, Briefe an die Entschädigungsbehörden, eidesstattliche Erklärungen, ärztliche Gutachten. Über Monate hinweg stöberten Esma Cayir, 19, und ihre Mitschüler in den Archiven in Wiesbaden und Darmstadt, auf der Suche nach Darmstädtern, die während der NS-Zeit verfolgt wurden. Als Cayir auf die Akten von Ernst Dillmann stieß, wusste sie schnell, dass sie seine Biografie aufarbeiten will. Dillmann war sozusagen ihr Nachbar - nur, dass er vor rund hundert Jahren in derselben Straße gelebt hat wie sie.

Sieben Lebenswege haben die Schülerinnen und Schüler der Bertolt-Brecht-Schule, einem Oberstufengymnasium in Darmstadt, nachgezeichnet. Vorgestellt werden Menschen, die sich der Nazi-Diktatur stellten und sich dem Anpassungsdruck weigerten. Und noch jahrelang nach dem Zweiten Weltkrieg für ihre Wiedergutmachungen kämpften. In der Ausstellung "Zwischen Nonkonformität und Widerstand. Biografische Erkundungen 1933-1945" stellen neun Gymnasiasten erstmals die Ergebnisse ihrer einjährigen Recherche im Max-Mannheimer-Studienzentrum (MMSZ) vor.

Esma Cayir hat das Leben Ernst Dillmanns recherchiert

Seit mehr als zehn Jahren rekonstruiert die Darmstädter Geschichtswerkstatt mit der Bertolt-Brecht-Schule die Biografien von eher unbekannten Darmstädtern, die während der NS-Zeit verfolgt, vertrieben und deportiert worden sind. 2017 startete der südhessische Verein die Zusammenarbeit mit dem MMSZ. Um diese Biografien nachzuzeichnen, haben die Schülerinnen und Schüler etliche Dokumente in Staatsarchiven und den Arolsen Archives durchforstet.

Bei ihren Recherchen wurde immer wieder die Verbindung nach Bayern klar. Etliche Häftlinge wurden aus dem Konzentrationslager Osthofen bei Worms nach deren Auflösung 1934 in das Konzentrationslager Dachau verlegt. Einige der ausgestellten Biografien führten auch nach Dachau - oder endeten dort.

Wie das Leben von Ernst Dillmann, das Esma Cayir aufgearbeitet hat. Dillmann, geboren 1904, schlägt sich in 1930er-Jahren als Hilfsarbeiter durch und schließt sich der KPD und wohl auch der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition (RGO) an. 1934 zerschlugen die Nationalsozialisten die Untergrundorganisation und bestraften Dillmann 1935 mit mehreren Jahren im Zuchthaus. 1937 deportierte ihn die Gestapo ins KZ Dachau, wo er bis 1939 bleibt. Später wird er zur Strafdivision 999 eingezogen.

Die Schüler und Schülerinnen der Bertolt-Brecht-Schule in Darmstadt mit ihren Lehrern Bernhard Schütz und Kirsti Ohr. (Foto: Niels P. Jørgensen)
Wilhelm Walter, geboren 1889, war Zeichner, Grafiker und Komponist. Seine Freundschaften zu jüdischen Künstlern wurden ihm vermutlich zum Verhängnis. 1940 starb Walther im Konzentrationslager Dachau. (Foto: Niels P. Jørgensen)
Caron und Ornela (r.) haben das Leben von Maria Weingärtner recherchiert. Diese forderte nach dem Zweiten Weltkrieg hartnäckig Entschädigungen bei Behörden ein. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Nach dem Krieg arbeitete Dillmann als Kraftfahrer, doch er litt noch lange an den Folgen des Zweiten Weltkriegs: "Ich habe noch immer Nervenunfälle, kann nicht vollwertig arbeiten", schrieb er 1957 an die Entschädigungsbehörden. Er beantragte einen Aufenthalt in einer Klinik, doch danach verlor die Dreizehntklässlerin die Spur. Dillmann ist nach diesem Brief nicht mehr in den Dokumenten aufzufinden, auch sein Todesdatum bleibt unbekannt.

Cayir geht davon aus, dass Dillmann in den 1960er-Jahren ein Klinikaufenthalt gewährt wurde. Dass Cayir seinen Lebensweg nicht vollständig rekonstruieren konnte, stört sie nicht. Im Gegenteil, sie ist zufrieden: "Ich bin froh, dass ich überhaupt etwas gefunden habe." Sein Leben wäre sonst komplett in Vergessenheit geraten.

"Noten haben da nichts zu suchen."

Benotet wird die Ausstellung nicht, auch wenn die Jugendlichen parallel zur Schule an dem Projekt gearbeitet haben. Die Freiwilligen hätten die unterschiedlichsten Charaktere ausgewählt und seien zudem über das Jahr als Gruppe gewachsen. "Das alles mit einer Note zu bewerten, wäre nicht fair gewesen, auch gegenüber den porträtierten Menschen nicht", meint Cayir.

Dieser Meinung ist auch Lehrer Bernhard Schütz, der das Projekt mit seiner Kollegin Kirsti Ohr betreut hat: "Noten haben da nichts zu suchen." Wichtiger sei es, Geschichte so niedrigschwellig wie möglich zu gestalten. Viele Schüler hatten anfangs auch Bedenken, überhaupt mitzumachen, weil sie in dem Schulfach eher schlechtere Noten aufwiesen.

Besonders begeistert ist Schütz von der Herangehensweise seiner Schülerinnen und Schüler. Wenn der Geschichts- und Philosophielehrer selbst Akten durchsucht, habe er einen eher abgebrühten Blick. Bei den Jugendlichen würde eher das Interesse geweckt, wenn sie Ungerechtigkeit oder Niederlagen nachempfanden. Wie etwa bei Maria Weingärtner, deren Leben auch in der Ausstellung zu sehen ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg forderte Weingärtner hartnäckig Entschädigungen bei Behörden ein. In ihren Anträgen schreibt klar und deutlich: "Wir brauchen Matratzen."

Die Ausstellung der Projektwoche bleibt bis Ostern im Max-Mannheimer-Studienzentrum hängen, danach wandert sie weiter zur Bertolt-Brecht-Schule in Darmstadt. Auch in der KZ-Gedenkstätte Osthofen wird sie zu sehen sein.

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