Klinikmorde:Nichts sehen, nichts sagen, nichts tun

Lesezeit: 2 Min.

Zufahrt zum Hauptgebäude des Josef-Hospital im Stadtteil Deichhorst. Hier war Högel angestellt. (Foto: Hauke-Christian Dittrich/picture alliance/dpa)

Die Aufarbeitung der Morde des Niels Högel offenbart nicht nur einen Medizin-, sondern auch einen Justizskandal.

Kommentar von Annette Ramelsberger

Im Juni 2005 haben eine Krankenschwester und ein Pfleger im Krankenhaus Delmenhorst einen Kollegen auf frischer Tat ertappt, als er versuchte, einen Patienten zu töten. Die angemessene Reaktion wäre gewesen: Vorgesetzte informieren, Polizei alarmieren, überprüfen, welche Todesfälle in die Dienstzeiten des Kollegen fallen. Was geschehen ist: Der Vorgesetzte wurde informiert, danach aber passierte - nichts. Kein Anruf bei der Polizei, keine Warnung an die Kollegen. Der Täter wurde nicht mal freigestellt, er durfte noch zwei Schichten vor seinem Urlaub machen. Da tötete er noch einmal eine Patientin. Erst danach informierten die Verantwortlichen die Polizei.

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Die Staatsanwaltschaft nennt das Totschlag durch Unterlassen. Sieben Ärzte, Pfleger und Vorgesetzte aus den Krankenhäusern Oldenburg und Delmenhorst müssen sich nun dafür verantworten, dass sie den Mörder nicht aufhielten, selbst dann nicht, als er schon überführt war: Niels Högel, der bereits wegen 87 Morden zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist. Doch um ihn geht es nicht mehr, auch wenn der Narzisst es genießen wird, als Zeuge gegen die ehemaligen Kollegen auszusagen.

Selbst gestandene Oberärzte stellte sich lieber dumm

Nun geht es um die, die weggesehen haben. Wer die vergangenen Prozesse um den Todespfleger verfolgt hat, ahnt, was kommen könnte: Abstreiten, Vergessen, Schweigen. Reihenweise traten 2015 und 2019 Zeugen aus den Krankenhäusern auf, mauernd, die Aussagen erkennbar abgesprochen, sie litten unter kollektivem Gedächtnisverlust. Selbst gestandene Oberärzte stellten sich lieber dumm, als einen Hauch von Verantwortung zuzugeben.

Natürlich sind solche Taten zunächst unvorstellbar. Niemand traut den eigenen Kollegen Serienmord an Patienten zu. Man ist ja schließlich im Krankenhaus, nicht im Krimi. Aber muss man nicht hellhörig werden, wenn unter den Kollegen vom "Sensenmann" Högel gemunkelt wird, wenn der Verbrauch eines Herzmedikaments um 700 Prozent steigt, wenn die Todesrate auf der Station hochschnellt? Wo schlägt Nichtstun in Vorsatz um? Denn man muss die Morde nicht wollen, um schuldig zu werden. Es reicht, sie in Kauf zu nehmen: um keinen Ärger zu riskieren oder dem Ruf der Klinik nicht zu schaden. Wer das zum Maßstab seines Handelns macht, setzt das Leben von Patienten aufs Spiel. Man nennt das bedingten Vorsatz und der ist strafbar.

Die Justiz hat vielen Menschen eine psychische Tortur zugemutet

Es sind nicht nur die Klinikmitarbeiter, die bis heute kaum Verantwortung auf sich nehmen. Nicht angeklagt sind die Staatsanwälte, die das Verfahren verschleppten und es den Angehörigen der Opfer überließen, um die Aufklärung zu kämpfen. Die Mordserie von Oldenburg und Delmenhorst war nicht nur ein Medizin-, sie war auch ein Justizskandal. Es dauerte Jahre, bis nun der Prozess beginnt. Währenddessen hält der Täter Hof in der Haft, bis vor Kurzem gab er ungehindert Interviews.

Auch den jetzt Angeklagten hätte man schnellere Klarheit gewünscht. Sicher: Wer zynisch ist, wird sich über die jahrelange Verzögerung des Prozesses gefreut haben, weil so die eigene Karriere ungestört weiterlaufen konnte. Für die anderen ist der Druck, der seit 17 Jahren auf ihnen lastet, sicher nicht leichter geworden. Die Justiz hat durch ihre Verschleppungstaktik nicht nur die Angehörigen der Opfer, sondern auch die Angeklagten einer jahrelangen psychischen Tortur ausgesetzt. Auch dafür übernimmt niemand die Verantwortung.

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