Bundesregierung:Aus mehr mach weniger

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Wo das Geld herkommt: eine der Streitfragen innerhalb der Bundesregierung. (Foto: Monika Skolimowska/dpa)

Immer schneller büßt die vermeintliche Fortschrittskoalition ihren kärglichen Restzauber ein: Im Drei-Parteien-Bündnis drohen massive Konflikte - und der Streit um die kalte Progression ist nur der Anfang.

Kommentar von Henrike Roßbach

Es ist Sommer in Berlin und ruhig im Regierungsviertel. Es gehört den Touristen, die sich und das Brandenburger Tor fotografieren und vor dem Kanzleramt stehen und sich fragen, ob er wohl irgendwo da drin ist oder Urlaub macht, der Kanzler. Doch mit dem politischen Betrieb verhält es sich in diesen Tagen wie mit einem See, der still im Sonnenlicht ruht, bei dem aber unter der Oberfläche, verborgen im tiefen Wasser, tückische Strömungen lauern.

Die Frage ist nur, wen es zuerst wegreißt.

Die Krise, die mit dem Ukraine-Krieg auch über Deutschland gekommen ist, hat den kärglichen Restzauber der vermeintlichen Zukunftskoalition gründlich verdampfen lassen. Die Ampel präsentiert sich endgültig als das, was sie letztlich immer schon war: ein Zweckbündnis mit vielen möglichen Bruchstellen.

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Lagerdenken - doch nicht mit uns

Dass sich mit SPD und Grünen auf der einen und der FDP auf der anderen Seite zwei unterschiedliche politische Lager zusammengetan haben, wird von den Beteiligten gerne heruntergespielt. Lagerdenken gilt als old school, als Politik 1.0. Angesagt sind Pragmatismus, rechts wie links, und vor allem gönnen können. Und für die gute, fortschrittliche Sache springt man dann eben auch gerne mal über den eigenen Schatten.

So weit die Theorie. Der gegenwärtige Zustand der Koalition beweist jedoch, dass mit dieser Erzählung etwas nicht stimmen kann. Es wird gezankt und gestichelt vom Bürgergeld bis zur Atomkraft. Nirgendwo aber spiegeln sich die tiefgreifenden Differenzen so deutlich wie in der Debatte über weitere Hilfen für die Bürger angesichts von Inflation und Energiekrise. Dass es diese Hilfen geben soll, darüber ist man sich zwar ziemlich einig - vor allem seit klar ist, dass die Gasversorger die gestiegenen Preise bald an ihre Kunden weitergeben dürfen. Doch schon bei der simplen Frage, was unter "Hilfe" eigentlich zu verstehen ist, bröckelt die Einigkeit.

SPD und Grüne begreifen staatliche Hilfen im Kern so, dass die Regierung sich neue Geldquellen sucht, sei es über Schulden oder höhere Steuern, und diese Einnahmen dann gemäß ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit an die Bürger verteilt. Die Liberalen wiederum verstehen unter Hilfe grob gesagt, dass der Staat den Bürgern mehr von dem lässt, was sie selbst erarbeitet haben, oder ihnen zumindest nicht noch mehr wegnimmt. Diejenigen, die es alleine nicht schaffen können, sollen darüber hinaus zusätzliche Unterstützung bekommen.

Kalte Progression: Aus mehr mach weniger

Schon sehr bald wird dieser Fundamentalkonflikt endgültig sichtbar werden. Spätestens nämlich, wenn die Koalition über den Umgang mit der kalten Progression entscheiden muss. Dabei handelt es sich um einen für den Steuerzahler unangenehmen Effekt, der sich aus dem Zusammenspiel von Inflation und progressivem Steuertarif ergibt: Wenn ein Arbeitnehmer eine Gehaltserhöhung in Höhe der Inflationsrate bekommt, kann er sich danach genauso viel leisten wie vorher. Das Plus gleicht die gestiegenen Preise aus, aber nicht mehr. Im Einkommensteuertarif jedoch rutscht er mit seinem neuen und höheren Bruttogehalt trotzdem nach oben, zahlt also mehr Steuern. Netto und unter Berücksichtigung der Inflation hat er dadurch am Ende weniger Geld zur Verfügung als vor der Lohnerhöhung. Klingt skurril, ist aber so.

Die FDP in Gestalt ihres Finanzministers und Parteichefs Christian Lindner will das verhindern und die kalte Progression über eine Anpassung des Steuertarifs ausgleichen. Vor allem die Grünen sind dagegen und werfen den Liberalen vor, mal wieder Steuersenkungen für Reiche zu planen. Das ist wenig überraschend. Überraschend ist dagegen, wie schwer sich die FDP damit tut, diese Darstellung zu zerstreuen. Denn sie ist schlicht falsch.

Vielleicht sind die Liberalen ja zu beschäftigt mit ihrer grotesken Kein-Tempolimit-Folklore und damit, die verbliebenen Brennstäbe in den Atomkraftwerken zu zählen, statt einen Konflikt auszufechten, der den Streit wenigstens wert wäre. Denn eigentlich ist es ganz einfach: Der Ausgleich der kalten Progression ist natürlich keine Steuersenkung, sondern lediglich die Verhinderung einer Steuererhöhung durch staatliches Nichtstun. Und ja, in absoluten Zahlen profitieren Gutverdiener am meisten, weil sie auch am meisten Einkommensteuer zahlen. Relativ zum Einkommen aber trifft die kalte Progression Menschen mit mittlerem Einkommen besonders hart. Und gerade die fallen bei vielen anderen Krisenhilfen durchs Raster.

Es ist gut möglich, dass diese Regierung angesichts der Energiekrise zu dem Schluss kommt, doch mehr Geld zu brauchen, als sie hat. Dann aber muss sie auch eine parlamentarische Mehrheit für eine echte Steuerreform organisieren. Heimliche Steuererhöhungen im zweistelligen Milliardenbereich durch schlichtes Unterlassen dagegen sind feige und grob unfair. Egal welchen Weg die Regierung nach der Sommerpause einschlägt: Still ruhen wird bald nichts mehr in Berlin.

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