Drohen im neuen Jahr wieder Schulschließungen? Die Frage ist falsch gestellt, denn die Schulschließungssaison hat längst begonnen. Nur heißen die Schulschließungen in diesem Winter nicht Schulschließungen - die will die Politik ja unbedingt vermeiden. Stattdessen ist die Rede vom Präsenzunterricht, der ausgesetzt wird, so wie vor Weihnachten in Mecklenburg-Vorpommern. Oder von einer Verlängerung der Ferien, so wie vor den Feiertagen in Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Die Schulen in Thüringen starten mit zwei Tagen Distanzunterricht ins neue Kalenderjahr. Je nach Infektionslage können es auch mehr werden, Wechselunterricht ist ebenfalls möglich. Ursprünglich wollte das Kultusministerium alle Schulen erst in die verlängerten Ferien, dann in den Distanzunterricht und dann in den Wechselunterricht schicken.
Wenn Udo Beckmann, der Chef des Verbandes Bildung und Erziehung, nun fordert, es dürfe keinen Präsenzunterricht "um jeden Preis" geben, kann man ihm entgegnen: Gibt es nicht. Wenn Beckmann anregt, Wechsel- und Distanzunterricht dürften "kein Tabu" sein, kann man ihm entgegnen: Sind sie nicht. Und wenn Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, nun verlangt, die Schulen nicht auszunehmen, sollte es zu einem neuen Lockdown kommen, kann man ihm entgegnen: Die Schulen werden auch jetzt nicht ausgenommen von den Maßnahmen, mit denen eine ganze Reihe von Ländern sich den hohen und bald wohl massiv steigenden Infektionszahlen entgegenstemmt.
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Eine Verschnaufpause über Weihnachten, das hätten die schwer gestressten Schulen im Land gerade in diesem Jahr gut gebrauchen können. Doch die Diskussion, wie es nach den Ferien weitergeht, ist längst wieder aufgeflammt, angefacht vom Brandbeschleuniger Omikron. Die einen - zum Beispiel der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher - fordern, Schulschließungen zu verhindern. Die anderen, allen voran die Lehrerverbände, fordern, sie nicht voreilig auszuschließen. Alles beim Alten also. Das darf doch nicht wahr sein.
Spät hat sich in Deutschland ein Konsens durchgesetzt: Schulen möglichst lange offen zu lassen, hat Priorität
Dass die Lehrerverbände mahnen und warnen, ist ihr gutes Recht. Dass sie sich um die Gesundheit der Lehrerinnen und Lehrer sorgen, ist ihre Pflicht. Dass sie die Länder auffordern, Vorbereitungen für Wechsel- und Distanzunterricht zu treffen und sich schon vor dem 7. Januar einmal zusammenzusetzen, ist nur vernünftig. Aber dass die Lehrerverbände kaum verhohlen auf das Ende des Präsenzunterrichts drängen, dass sie in Person von Heinz-Peter Meidinger darum bitten, im Fall eines neuen Lockdowns die Schulen nicht zu vergessen, ist ein schlechter Witz. Nach allem, was mittlerweile über die eher bescheidene Rolle von Schulen für das Infektionsgeschehen und die verheerenden Folgen von Schulschließungen bekannt ist, darf man von den Lehrerverbänden erwarten, dass sie sich endlich nicht nur als Sachwalter ihrer eigenen Interessen verstehen - sondern auch der Interessen von Schülerinnen und Schülern.
Niemand kann ausschließen, dass im neuen Jahr weitere Schulen schließen müssen, auch flächendeckend. Dafür ist Omikron einerseits zu bedrohlich und andererseits noch zu diffus. Doch spätestens seit dem zweiten Lockdown vor einem Jahr hat sich auch in Deutschland langsam und gegen viele Widerstände ein Konsens durchgesetzt, den man als großen Fortschritt ansehen muss: dass Schulen so lange offen bleiben, wie es geht - und das heißt im Zweifel auch: länger als Restaurants, Bars, Fußballstadien und andere Teile des öffentlichen Lebens. Es ist eine bittere Pointe, dass nun ausgerechnet Lehrerverbände hinter diesen Konsens zurückfallen.