Was muss die Politik tun, um ihrer Verantwortung für Kinder und Jugendliche auch bei hohen und sehr hohen Infektionszahlen gerecht zu werden: die Schulen offen halten? Die Schulen schließen? So eindeutig die Haltung der Regierungen in Bund und Ländern dazu mittlerweile ist - offene Schulen, so lange es geht -, so umstritten ist die Frage in vielen Familien und Lehrerzimmern, aber auch bei Ärzten. Am Wochenende erst entzündete sich eine hitzige Debatte an einer Serie von Tweets des Thüringer Bildungsministeriums. Darin zählte das Ministerium nicht nur Gründe für offene Schulen auf, sondern behauptete auch, es sei "nicht geklärt", ob Kinder Long-Covid bekommen können. Nach heftigem Widerspruch wurde nicht nur der Tweet gelöscht, sondern auch eine Staatssekretärin entlassen.
Am Mittwoch nun veröffentlichte die Kultusministerkonferenz (KMK) eine Studie, die die nach wie vor hitzigen Debatten zwar kaum beenden dürfte, die aber ein klares wissenschaftliches Plädoyer gegen Schulschließungen liefert - zumindest gegen Schulschließungen als isolierte Maßnahme. Auf eine solche Bestätigung ihres Kurses hatte die KMK gehofft, als sie das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig und die Kinderklinik der Uniklinik Köln im November 2020 damit beauftragte, das Infektionsgeschehen an den Schulen zu vermessen, die Schutzmaßnahmen zu bewerten und "belastbare Zahlen für die gesamte Republik" liefern.
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Statt belastbarer Zahlen bescherte die Studie der KMK im Sommer aber zunächst ein mittleres PR-Debakel, noch bevor sie erschienen war. Vermutlich auch deshalb wurde ihre Veröffentlichung am Mittwoch von einem Hintergrundgespräch für die Presse flankiert. Wenn es schon eine frohe Botschaft gibt, dann soll die bitte auch richtig ankommen.
Das Infektionsrisiko für Lehrer ist im Vergleich zum Beginn der Pandemie zuletzt gesunken
Vier zentrale Ergebnisse der Studie hob Jörg Dötsch, Leiter der Uni-Kinderklinik Köln und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, dabei hervor. Erstens: Das Infektionsrisiko für Lehrerinnen und Lehrer sei im Verlauf der Pandemie von zunächst überdurchschnittlichen Werten auf das Niveau der Gesamtbevölkerung oder sogar darunter gefallen. Verantwortlich dafür seien zum einen die Impfungen, zum anderen die Hygienemaßnahmen an den Schulen, die laut Dötsch - trotz einiger Probleme wie etwa bei den Lüftungsgeräten - in der Gesamtheit "sehr erfolgreich" seien. Das Infektionsrisiko für Schülerinnen und Schüler stieg im gleichen Zeitraum im Vergleich zum Rest der Bevölkerung, was Berit Lange, Epidemiologin vom Braunschweiger Helmholtz-Zentrum, ebenfalls auf die Impfungen zurückführte. Jugendliche können sich erst seit dem Sommer immunisieren lassen, die Impfkampagne für Kinder hat gerade erst begonnen.
Zweitens zeigten die Daten, dass das Infektionsrisiko für Schülerinnen und Schüler zu Hause im Lauf der Pandemie deutlich anstieg, etwa wegen der Ausbreitung der ansteckenderen Delta-Variante. In der Schule dagegen blieb das Risiko weitgehend konstant. Auch dies sei "ein unglaublicher Erfolg des Infektionsschutzes an den Schulen", so Dötsch.
Immer wieder müssen einzelne Schulen schließen und Kinder in Quarantäne schicken
Drittens trage die Schule dank der regelmäßigen Tests sogar dazu bei, das Infektionsgeschehen zu regulieren. In Nordrhein-Westfalen habe es nach den Sommerferien eine "extrem hohe" Anzahl infizierter Schülerinnen und Schüler gegeben, die das Virus aus dem Urlaub in die Schule trugen, sagte Dötsch. Dort seien die Infektionszahlen dann innerhalb weniger Wochen deutlich gesunken, weil Infizierte rechtzeitig identifiziert wurden. Allerdings zeigt die Studie auch eindeutig, dass Schulen zwar nicht unbedingt ein Treiber der Pandemie sind, aber einen nicht unerheblichen Anteil am Infektionsgeschehen tragen. Über die Zeit schwankt er den Daten zufolge zwischen fünf und 15 Prozent.
Viertens schließlich zeigten regionale Vergleiche "ganz klar", dass Masken im Unterricht das Infektionsgeschehen eindämmten. "Die Sicherheit der Schülerinnen und Schüler, ihre Integration, ihre Teilhabe am Leben, hat sich ebenso wie die Sicherheit der Lehrkräfte in die richtige Richtung entwickelt", sagte Dötsch.
Die Frage ist nun, was diese Ergebnisse für die aktuelle Situation bedeuten. Die Infektionszahlen sind nach wie vor besonders unter Kindern und Jugendlichen hoch, immer wieder müssen einzelne Schulen nach Ausbrüchen schließen. Und die neue Variante Omikron droht, die Lage noch zu verschärfen. Nach aktuellen Erkenntnissen aus südafrikanischen Daten, sagte Dötsch, führe Omikron nicht zu deutlich schwereren Verläufen bei Kindern, sei aber erheblich ansteckender. Zu befürchten seien deshalb mehr Infektionen auch unter Kindern, aber keine Überlastung der Kinderkrankenhäuser. "In einer Millionenstadt wie Köln haben wir in der Woche im Durchschnitt fünf Kinder in den Kliniken", sagte Dötsch.
Sein Fazit: "Aktuell ist überhaupt kein Grund gegeben, die Schulen zu schließen oder vorgezogene Weihnachtsferien in Betracht zu ziehen. Das bringt wirklich nichts und beeinträchtigt die Gesundheit der Kinder." Sollte Omikron sich aber als weitaus bedrohlicher erweisen, als derzeit abzusehen, dann könne es natürlich auch zu Schulschließungen kommen - allerdings nur, wenn gleichzeitig auch das gesamte übrige gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben heruntergefahren wird. Diese Option schloss Dötsch ausdrücklich nicht aus.