Bergkarabach:Die Schutzmacht Russland war keine

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Die Bevölkerung leidet: Zivilisten in einem Bunker von Stepanakert. (Foto: IMAGO/oldhike/IMAGO/ITAR-TASS)

Der Konflikt um die Bergregion im Südkaukasus ist vorerst entschieden - auf Kosten der Bevölkerung. Doch die Spannungen im Hintergrund zwischen Russland und der Türkei sind damit noch lange nicht behoben.

Kommentar von Silke Bigalke

Einen Tag dauerte der Krieg, dann war die Sache entschieden. Eine kleine Bergregion im Südkaukasus, um die seit Jahrzehnten gestritten wird, bekommt neue Herren. Die Waffen waren ungleich verteilt; das stärkere, größere, reichere Aserbaidschan hat gewonnen. Die armenische Bevölkerung hatte keine Chance.

Das klingt brutal einfach, und ist doch so kompliziert. Denn der Konflikt spiegelt das verworrene kaukasische Machtgefüge wider, in dem es nie allein um kaukasische Interessen ging. Zusammengehalten wurde das Konstrukt Bergkarabach stets von größeren Kräften. Dort prallten russische und türkische Interessen aufeinander, manchmal auch iranische, europäische, amerikanische. Ein Tag Krieg hat nun all das verschoben. Seine Folgen gehen über das Schicksal der 120 000 Menschen hinaus, die alles verloren haben.

Für die Türkei ist Aserbaidschan das Tor in den Kaukasus

Um diese Folgen zu verstehen, kann man sich von innen nach außen schälen, angefangen bei der humanitären Katastrophe in Bergkarabach. Dessen Bewohner sind Armenier, auch wenn sie formal auf aserbaidschanischem Territorium lebten. Sie haben ihre Heimat vor mehr als dreißig Jahren zur unabhängigen Republik erklärt, was international nie anerkannt wurde. Es sind also die Verteidiger von Bergkarabach und nicht die armenische Armee, die sich Aserbaidschan ergeben haben. Ein wichtiger Unterschied.

Denn Armenien hält sich militärisch bisher zurück, um einen größeren Krieg zu vermeiden. Premierminister Nikol Paschinjan konnte über Monate nur zusehen, wie die Menschen in der abgeschnittenen Region hungerten und bombardiert wurden. Für Paschinjan ist der Verlust der Region nach drei Jahrzehnten eine Niederlage, die seine Machtlosigkeit zeigt. Doch Aserbaidschan ist auch Armenien militärisch weit überlegen. Er wollte keinen Angriff auf armenisches Staatsgebiet riskieren.

Ob diese Gefahr gebannt ist, hängt allerdings nicht von ihm allein ab. Hier kommen Russland und die Türkei ins Spiel, lange war auch dieses Quartett leicht zu verstehen: Die Türkei stand hinter Aserbaidschan, Russland hinter Armenien. Doch als Armenien im Krieg vor drei Jahren um Hilfe rief, schwieg Moskau. Aserbaidschan nahm den Armeniern damals eine Region nach der anderen ab, bis Russland einen Waffenstillstand vermittelte. Russische Friedenstruppen standen seither zwischen der aserbaidschanischen Armee und dem Kerngebiet von Bergkarabach. Doch die Russen haben weder die Blockade noch den Angriff in dieser Woche verhindert.

Entweder wusste die russische Seite vorher wirklich nichts von den aserbaidschanischen Plänen, wie Moskau behauptet. Oder es hat den Angriff geschehen lassen. In beiden Fällen sähe die angebliche Schutzmacht schlecht aus: Entweder hat das kleine Aserbaidschan das große Russland übertrumpft oder Moskau hat seinen armenischen Partner wissentlich ans Messer geliefert. Seit Jahren wird darüber spekuliert, ob Moskau seinen Einfluss im Kaukasus verspielt hat, den es seit Sowjetzeiten als seinen Hinterhof betrachtet. Offenbar hat es keine Kraft für einen zweiten Krieg. Der russische Angriff in der Ukraine hat die Truppen im Kaukasus dezimiert.

Eine Schwäche, die Aserbaidschan ausgenutzt hat, mit türkischer Rückendeckung. Für die Türkei ist Aserbaidschan das Tor in den Kaukasus; Recep Tayyip Erdoğan hat schon beim Waffenstillstand vor drei Jahren mitverhandelt. Damals ging es auch um einen Korridor mitten durch Armenien zur aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan. Armenien liegt genau zwischen Aserbaidschan und der Türkei - es liegt beiden im Weg. Mit dem Korridor hätten sie eine Verbindung und die Türkei über Aserbaidschan einen Zugang zum Kaspischen Meer. Den wiederum gönnt Iran den Türken nicht, denn bisher gingen türkische Transporte Richtung Zentralasien immer durch Iran. Die Interessenskette ist endlos.

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Russland wird sich seine Rolle im Kaukasus nicht einfach nehmen lassen, nur weil es gerade keinen Stellvertreterkrieg mit der Türkei führen kann. Solange russische Truppen auf armenischem Boden stehen und der Konflikt ausreichend gärt, hat Moskau Hebel in der Hand. Und den armenischen Premier Paschinjan hätte es ohnehin gerne los. Dieser hat immer betont, Armeniens Sicherheit dürfe nicht allein von Russland abhängen. Er hat armenische und amerikanische Truppen gemeinsam üben lassen. Sogar das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs möchte Paschinjan unterschreiben. Wladimir Putin könnte dann nicht mehr nach Armenien reisen ohne die Gefahr einer Festnahme. Wenn Paschinjan jetzt vom eigenen Volk als Verräter beschimpft wird, hat Putin nichts dagegen.

Armenien hatte lange auf Europa gehofft, doch alle Appelle aus Brüssel haben weder die Blockade gelöst, noch den Angriff auf Bergkarabach verhindert. Die Menschen dort suchen jetzt am Flughafen Schutz, wo russische Truppen ihren Stützpunkt haben. Sie können sich an niemand anderen wenden.

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