TV-Debatte zu Hitlers "Mein Kampf" bei Anne Will:"Dieses blöde Buch"

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Eigentlich sind sich bei Anne Will alle einig: Nie wieder. Wie also ist mit "Mein Kampf" umzugehen, Hitlers Buch, an dem der Freistaat Bayern die Urheberrechte hält und das nun in einer Schulversion gedruckt werden soll? Statt über den zukünftigen Umgang mit dem Pamphlet zu sprechen, beschäftigt sich die Talkrunde lieber mit jahrzehntealten Fragen und die Nerven liegen blank.

Irene Helmes

Das Schreckensbild ist rasch skizziert: Mein Kampf liegt in wenigen Jahren stapelweise an deutschen Kiosken. Skrupellose Verleger machen das große Geschäft. Schüler lassen sich von der antisemitischen Hetze faszinieren. Neonazis reiben sich die Hände. So weit die gängigen Befürchtungen angesichts der bevorstehenden Freigabe des Pamphlets von Adolf Hitler. Denn in etwa drei Jahren ist es so weit: Der Freistaat Bayern verliert die Urheberrechte an der Hetzschrift, dann kann sie auch hierzulande im Prinzip nachdrucken, wer will.

Bis 2015 soll das Münchner Institut für Zeitgeschichte eine wissenschaftlich-kritische Edition von Mein Kampf herausgeben. (Foto: dapd)

Das optimistischere Szenario: Was frei verfügbar ist, könnte den Reiz des Verbotenen verlieren. Kommentierte Editionen könnten Kontext liefern und dabei helfen, den nächsten Generationen die bittere Wahrheit über Nationalsozialismus, Holocaust und die daraus erwachsende Verantwortung für die Zukunft nahezubringen.

Welche Variante ist wahrscheinlicher? Der Freistaat Bayern, der noch bis 2015 die Rechte hält, hat vergangene Woche einen Strategiewechsel verkündet und will - nach langem Zögern - den drohenden wahllosen Nachdrucken mit einer wissenschaftlichen Edition und Schulversionen zuvorkommen. Die Diskussion ist damit auf ein Neues entfacht. Und so fragt Anne Will: "Hitlers Mein Kampf im Klassenzimmer - man wird doch wohl noch lesen dürfen?"

Die Zusammenstellung ihrer Diskussionsrunde ist vielversprechend: Zwei Bundespolitiker sehr unterschiedlicher Couleur (Norbert Geis, CSU, und Volker Beck von den Grünen), der türkischstämmige Comedian Serdar Somuncu, der Hitler auf der Bühne lächerlich macht, zwei Journalisten (Wibke Bruhns, deren Vater von den Nationalsozialisten als Hochverräter hingerichtet wurde, sowie Wolfgang Herles, bekannt etwa durch die Kultursendung Aspekte), und schließlich die Therapeutin Gabriele Baring, spezialisiert auf die "geheimen Ängste der Deutschen".

"Eine grottenlangweilige Lektüre"

So sitzen sie nun um eine alte Ausgabe von Mein Kampf herum, Familienerbstück eines Will-Kollegen - denn das Buch zu besitzen und zu lesen, ist schon heute legal. Die Meinungen zu einer kritischen Neu-Publikation scheinen zunächst überschaubar und changieren zwischen "es würde sogar ein einfaches Vorwort reichen" (Herles), "Ja zu einer kommentierten Fassung, auch für Schulen" (Geis und Beck), "kommentiert ja, aber bitte nicht an Schulen" (Bruhns) über "Ja, wenn man es richtig macht" (Somuncu) bis zu einem "entscheidend ist, wie es gemacht wird" (Baring).

Einig zeigt man sich auch über das Machwerk an sich. Bruhns, Jahrgang 1938, hat sich selbst zweimal durch die "700 Seiten dieses unsäglichen Pamphlets" gequält, "eine grottenlangweilige Lektüre". Der Grüne Beck - mit 51 Jahren der zweitjüngste Gast dieses Abends - konstatiert statt magischer Faszination eine "magische Langeweile". Es sei nun wirklich nicht so, "als ob man sich an diesem Buch infizieren könne". Für Herles liegt das wirklich brisante Vermächtnis der Nazis in den frei zugänglichen Ton- und Filmdokumenten, in der "Fratze von Hitler, wenn er durchdreht", das tabuisierte Buch sei langweilig im Vergleich. Ja, "dieses blöde Buch", sagt Beck - und jetzt mache man "einen solchen Hype draus".

Also alles nicht so wild, könnte man meinen. Oder doch? Sind nicht gerade Teenager in ihrer Trotzphase besonders anfällig für Propaganda, fragt Bruhns. Den Fehler, Hitler und sein Buch nicht ernst zu nehmen, habe man schon in der Weimarer Republik gemacht, erinnert Geis, und zitiert Umfragen, denen zufolge heute 20 Prozent der Deutschen zumindest latent antisemitisch sind. Die Jugend sei durchaus "empfänglich", befürchtet der CSU-Politiker.

Wie viel kann man den Jugendlichen von heute und morgen also zutrauen, wie viel darf man ihnen (und ihren Lehrern) zumuten, wie werden sie am besten aus der Vergangenheit lernen? Hier tut sich die eigentliche Problematik um Mein Kampf auf.

Serdar Somuncu ist der Einzige in der Runde, "der bereits den Praxistest gemacht" und Stellen aus Mein Kampf vor deutschen Schülern und Erwachsenen gelesen hat. Auf der Bühne, in einem von links und rechts teils scharf kritisierten Programm, Hunderte Male, meist unter massivem Polizeischutz. Sein Tabubruch: Er konfrontiert das Publikum mit Auszügen aus Hitlers Texten, macht den Diktator durch Imitation lächerlich, sieht sogar in dessen Propagandabuch "Comedy-Ebenen - aber wir lachen nicht über die Opfer, sondern über die Formulierungen der Täter".

Sein Resümee: es kommt auf das richtige Alter an. "Siebte Klasse ist noch zu jung, zu albern, dann giggeln die nur, wenn ich 'Jude' sage." Interessant werde es ab der neunten Klasse, hier habe er das Gefühl, "es hat was gebracht". Der "Kick im Stillen", so Somuncu, sei gefährlicher als die offene Auseinandersetzung mit Hitlers Vermächtnis. Dem Nachwuchs etwas zuzutrauen, die meisten seien schließlich klug genug, dafür sprechen sich auch Beck und Herles aus. Journalistin Bruhns erklärt, sie revidiere - "jetzt wo ich ihn kennengelernt habe" - ihre bisherige Ablehnung gegenüber Somuncus provokantem Ansatz.

Doch längst nicht alle Zweifel des Abends sind ausgeräumt. Bruhns etwa hat bereits zu Beginn die Frage angerissen, inwiefern Jugendliche überhaupt noch ganze Bücher lesen, und was dies im Zusammenhang mit einer freien Verfügbarkeit von Mein Kampf bedeuten werde. Somuncu und Beck haben zu Bedenken gegeben, dass in Zeiten des Internets eine Kontrolle der Verbreitung ohnehin illusorisch werde. Über solche und weitere Aspekte hätte man nun weiter nachdenken können.

Da wirkt durchaus ironisch, dass die Runde ziemlich genau in dem Moment die Nerven verliert, als die Therapeutin richtig ins Gespräch einsteigt. Baring wird in der Runde zu viel über Hitler geredet und nicht genug darüber, "was eigentlich mit den Menschen los ist". Sie sieht sich von anderen Gästen mehrfach unterbrochen in ihrem Versuch, auch mal "das eiserne Schweigen zum eigenen Leid" zu thematisieren, das sie bei überlebenden und nachgeborenen Deutschen diagnostiziert.

"Darauf haben wir uns in Mitteleuropa geeinigt, dass wir nacheinander reden", knallt Baring dem türkischstämmigen Somuncu für eine kritische Zwischenbemerkung hin. Die Stimmung wird eisig. Beck platzt endgültig der Kragen, als Baring die Eindeutigkeit von Opfer- und Täterzuschreibungen in Frage stellt, und hadert sichtlich aufgewühlt mit der Verdrängung der historischen Schuld durch seine Familie, die die eigene Vertreibung lieber "den bösen Tschechen" anlastete.

Dann geht es ganz schnell. Weit zurück in die Vergangenheit, weiter zu Schuldfragen, zur Skandalrede von Martin Hohmann, der 2003 öffentlich überlegte, ob der Begriff "Tätervolk" auch auf Juden angewandt werden könne. Geis verteidigt den CDU-Mann Hohmann, der missverstanden worden sei. Dem Grünen Beck rutscht schließlich heraus, die Trivialität seiner Argumentation sei nur noch durch Mein Kampf zu unterbieten. Erst durch hartnäckiges Bitten von Will kann dieser Eklat entschärft werden. Beck nimmt seinen Vergleich zurück, Geis akzeptiert dies.

Ein paar Minuten wird noch weiter geredet. Doch die Chance, mit der Ruhe des Anfangs das ernste Thema und die drängenden Fragen der kommenden Jahre konstruktiv zu besprechen, ist vertan.

Schülern würde man sagen: Guter Ansatz, aber leider am Ende eine Themaverfehlung.

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