Debattenkultur im Netz:"Ich bin vorgestern mit 200 Sachen über die Autobahn gepest"

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Kai Gniffke möchte geschützte Räume für gute Debatten schaffen. Zu geschützt? (Foto: Michael Kappeler/picture alliance/dpa)

Tempolimit, Corona-Impfung, Krieg: Wie SWR-Intendant Kai Gniffke mit dem Format "Mixtalk" kontroverse Debatten schöner machen will.

Interview von Andrian Kreye

Mix Talk heißt ein neues Format, mit dem der SWR nicht weniger will, als die Debattenkultur im Internet erneuern. Jeden Mittwoch um 19 Uhr können sich alle, die wollen, über die Webseite mixtalk-swr.de in einen Video-Chat einschalten, der von vier Moderatorinnen des Senders geleitet wird. Ein Zufallsgenerator lost Teilnehmer aus, die dann im Pro-und-Contra-Format fünf Minuten lang diskutieren.

SZ: Warum sollte ein öffentlich-rechtlicher Sender versuchen, die Debattenlandschaft im Internet zu gestalten?

Kai Gniffke: Weil ich es leid bin, mich immer über die Verrohung des Tons im öffentlichen Raum zu beschweren. Stattdessen wollen wir etwas tun.

Was war der Auslöser für Ihren Ärger?

Das Thema treibt mich seit Jahren um. Das war auch der Grund, warum wir das Format "Sag's mir ins Gesicht" aus der Taufe gehoben haben, als ich noch bei der Tagesschau war. Wir waren der Meinung: Wenn man sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzt statt anonym zu chatten, hebt das das Niveau der Diskussion. Ein Stück weit ist das jetzt die Weiterentwicklung. Damit die Gefahr noch mal geringer wird, dass es respektlos oder unfair wird, wollen wir moderieren. Sodass jeder, der kommt, sicher sein kann: Hier kann man vernünftig miteinander streiten.

Bei welchen Themen erodiert die Debattenkultur in Deutschland?

Das waren zuletzt die großen gesellschaftlichen Fragen: Fluchtbewegungen, besonders vor der Pandemie auch die gendersensible Sprache. Da gehen die Emotionen sofort hoch. Wir wollen versuchen, die Themen in einem respektvollen Klima zu verhandeln.

Wäre eine Gemeinde im Sinne eines sozialen Netzwerkes das nächste Ziel?

Ich habe nicht die Illusion, dass wir hier das neue Facebook oder Instagram erfinden. Unser Angebot Mix Talk ist ein kleines Pflänzchen, das zunächst mal dafür da ist, Debatten über relevante Themen zu ermöglichen. Und da gibt es einen großen Bedarf, gerade bei jungen Menschen.

Woher wissen Sie denn, dass es dieses Bedürfnis gibt?

Wir haben im Vorfeld Nutzerumfragen gemacht, und da haben alle gesagt: Ja, natürlich interessieren mich all die Themen - aber viele haben Erfahrung mit Hassrede gemacht und debattieren deswegen nicht mehr mit. Nicht, weil sie keine Meinung haben. Sondern weil sie das, was danach geschieht, nicht möchten.

Was ist mit den Mechanismen, die in sozialen Netzwerken für Zulauf sorgen: Likes, Retweets, Followerzahlen, die für Endorphine sorgen - haben Sie da etwas vorgesehen?

Ich kann mir vorstellen, dass es auch Endorphin-Ausschüttungen gibt, wenn man eine Lust daran verspürt, Dinge und auch einander besser zu verstehen. Wenn eine Diskussion einen Ertrag bringt, man hinterher schlauer ist als vorher. Der Ansatz bei Mix Talk ist, auch mit wissenschaftlichem Input eine Umgebung zu schaffen, die gute Debatten erzeugt, anstatt die größte Aufregung und die meisten Klicks zu generieren. Wir unterliegen keiner Profitmaximierungslogik. Das macht den Unterschied.

Und wie garantieren Sie die Qualität der Debatte? Facebook hat 30 000 Moderatorinnen und Moderatoren. Sie haben vier.

Wir haben ein paar User weniger als Facebook, das macht die Sache etwas einfacher. Aber im Ernst, eine Netiquette, die strikt eingehalten wird, ist das A und O. Moderation und Durchsetzung der Regeln sind die Schlüsselfähigkeiten. Es wird auch so etwas wie Live-Faktenchecks geben.

Die ersten drei Themen sind nun Tempolimit, Atomkraft und Impfpflicht. Was passiert, wenn jemand behauptet, Bill Gates will uns Chips einpflanzen?

Das ist genau der spannende Moment. Dann würde in den sozialen Netzwerken eine Meute über ihn herfallen und ihn als Verschwörungstheoretiker beschimpfen. Bei Mix Talk wäre die Reaktion dann: Begründen Sie das bitte, liefern Sie uns Fakten. Und die werden dann geprüft.

Und das in fünf Minuten Debatte?

In mehrmals fünf Minuten - die Diskussion entwickelt sich dann ja weiter. Aber das ist genau der Lackmustest - wenn man auch mit einer Mindermeinung ordentlich behandelt wird. Ich habe mich jetzt schon mal mit Argumenten zum Thema Tempolimit für die erste Runde munitioniert. Ich bin vorgestern selbst noch mal mit 200 Sachen über die Autobahn gerast. Da bin ich mal gespannt auf die Diskussion, da will ich dann auch ordentlich behandelt und nicht mit dem Argument niederkartätscht werden, dass ich die Umwelt auf dem Gewissen habe. Dann würde ich mich gerne dem Diskurs stellen.

Gibt es denn Ausschlusskriterien?

Leute sperren kann man natürlich. Indem man sie nicht mehr ins "on" nimmt. Wir müssen schon darauf achten, dass Leute vollständig bekleidet sind, dass sie keine verfassungswidrigen Symbole ins Bild halten. Wenn jemand die Regeln wirklich grob verletzt, werden wir das sofort unterbinden. Aber ich glaube, wir müssen größtmögliche Toleranz walten lassen. Es wäre schlimm, wenn die Leute den Eindruck haben, wenn ich hier die "falsche" Meinung vertrete, dann schießen mich die raus. Wir haben da auch ein System mit gelben und roten Karten, da wird man gewarnt, bevor man ausgeschlossen wird.

Wie groß schätzen Sie denn die Nutzerschaft ein?

Wenn wir eine Runde mit tausend Leuten hätten, fände ich das super. Das werden wir sicher nicht beim ersten Mal schaffen. Aber das wäre ein Anfangserfolg.

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Wenn man Ihnen zuhört, dann sprechen Sie junge, aufgeklärte, vernünftige Menschen an. Schaffen Sie da nicht eine eigene Filterblase?

Das Phänomen der Filterblasen wird gemeinhin überschätzt. In meiner früheren Funktion bei der Tagesschau und jetzt beim SWR würden wir nicht so viele Hasskommentare bekommen, wenn es echte Filterblasen geben würde. Die Leute kommen schon auch aus ihrer Blase raus - und wollen ihre Meinung kundtun. Wir bieten nun einen Ort, an dem man die eigene Meinung loswerden kann - aber auch mit anderen Meinungen konfrontiert wird. Es ist gerade nicht das Ziel, dass wir am Ende eine Community haben, die sich einig ist.

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