Nadine Dorries kämpfte mit den Tränen. Bei ihrer Rede im britischen Unterhaus dankte die Ministerin für Kultur, Medien und Sport britischen Journalisten, die "ihr Leben riskieren", um live aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine zu berichten. Mit brechender Stimme dankte sie "all jenen Journalisten, die für die BBC, ITV und andere Nachrichtensender arbeiten, die ihr Leben riskieren, um uns unvoreingenommene und genaue Nachrichten aus einem Kriegsgebiet zu liefern". Sie wolle ihnen "meinen tief empfundenen Dank und meine Bewunderung aussprechen".
Es war ein in mehrerlei Hinsicht bemerkenswerter Auftritt. Da war zum einen die offenkundige Rührung, wie man sie im House of Commons, speziell von konservativen Abgeordneten, eher selten sieht. Vor allem aber stellte die Rede eine medienpolitische Kehrwende dar. Im vergangenen Monat erst hatte sie die Abschaffung der BBC-Rundfunk-Lizenzgebühr zum Jahr 2027 angekündigt. Die Ministerin hatte die meisten britischen Sender, besonders aber die BBC, wegen ihrer kritischen Berichterstattung über das Verhalten des Premierministers Boris Johnson während der Corona-Pandemie als publizistischen Feind ausgemacht, den es zu bekämpfen galt.
Der Journalist Matt Frei liefert von der Ukraine aus ein beeindruckendes Beispiel harter Interviewführung
Es war die verschärfte Fortsetzung eines bereits seit langem von Dorries' Tory-Partei betriebenen Politik der Unterminierung öffentlich-rechtlicher Berichterstattung. Dass Dorries nun die "Unvoreingenommenheit" der gleichen Sender pries, war wohl vor allem dem Umstand zu verdanken, dass derzeit nicht mehr ihre eigene, sondern die russische Regierung im Brennpunkt der medialen Aufmerksamkeit steht.
Besonders beeindruckende Beispiele harter Interviewführung waren in jüngster Zeit die Gespräche des Channel-4-Journalisten Matt Frei mit russischen Akademikern und Politikern, die Wladimir Putins Invasion unterstützen und rechtfertigen. Der gebürtige Essener, Sohn eines Deutschlandfunk-Korrespondenten, der seit seinem 10. Lebensjahr in Großbritannien lebt, arbeitete lange bei der BBC, unter anderem als Washington-Korrespondent. Seit 2011 ist er beim öffentlich-rechtlichen Channel 4; seit Beginn der russischen Invasion berichtet er direkt aus der Ukraine.
In seinem Gespräch mit dem Putin-Apologeten Dmitri Suslow, den auch deutsche Medien als "Amerika-Experten der Moskauer Hochschule für Wirtschaft" immer wieder gern zitiert haben, fragte er am vergangenen Montag: "Glauben Sie ernsthaft, dass es sich um ukrainische Raketen handelt, die ukrainische Zivilisten töten?" Suslow antwortete, er habe keine Beweise dafür gesehen, dass russische Raketen "ukrainische Objekte" zerstört hätten.
Frei hakt in dem dreiminütigen Gespräch immer wieder nach, fragt, was die Russen in der Ukraine wollen, betont, dass alle Ukrainer, mit denen er persönlich gesprochen habe, die Invasoren aus dem Land haben wollten. Suslow argumentiert, die Iraker hätten auch gerne gesehen, dass die Amerikaner 2003 ihr Land verlassen hätten. "Die Sünden der Amerikaner rechtfertigen also die Sünden der Russen?", fragt Frei. "Ja, natürlich tun sie das!" antwortet Suslow sehr laut.
Die BBC verbreitet jetzt Anleitungen, wie man ihre Nachichten in Russland und der Ukraine im Darknet empfangen kann
In einem weiteren Interview mit der ehemaligen Politikerin und Diplomatin Natalija Narotschnizkaja sagt Frei: "Sie haben hier möglicherweise ein Afghanistan direkt vor ihrer Tür, und wir wissen, wie das endete, mit dem Untergang des sogenannten Sowjet-Imperiums. Wie endet das hier?" "Es wird das selbe gute Ende haben wie Nazi-Deutschland, und wir werden uns zurückziehen, sobald dieses edle und ehrliche Ziel erreicht ist", sagt Narotschnizkaja. Es sei aber zweifellos ein "Drama" für alle Beteiligten. "Für Sie in ihrem Arbeitszimmer in Moskau ist es vielleicht ein Drama", antwortet Frei, bevor er das Interview beendet. "Es ist weit schlimmer für die Menschen, die hier in der Ukraine getötet werden."
Channel 4 war von den Tories eine Zeitlang systematisch boykottiert worden, weil er von allen britischen Sendern am kritischsten über Brexit und die Korruption innerhalb der Regierungspartei berichtet hatte. Diese Art von furchtlosem Journalismus wurde nun von Nadine Dorries gepriesen, die bis vor kurzem nicht einmal wusste, dass der Sender nicht mit öffentlichen Mitteln finanziert wird, dass ihr eigenes Ministerium aber dessen öffentlicher Träger ist.
Wie sehr gerade der BBC noch immer als unabhängiger Nachrichtenlieferantin vertraut wird, lässt sich daran ablesen, dass die russische Invasion der Ukraine zu Rekordzugriffszahlen bei den russisch- und ukrainischsprachigen Nachrichtenseiten des Senders geführt hat. Die russische Website der BBC hat ihren bisherigen Wochendurchschnitt mehr als verdreifacht und erreichte in der letzten Woche 10,7 Millionen Menschen, wie die BBC am Mittwoch mitteilte. Die russische Live-Seite über die Invasion war mit 5,3 Millionen Zugriffen die meistbesuchte Seite aller nicht-englischsprachigen Dienste des BBC World Service. Die Besucherzahlen der ukrainischsprachigen BBC-Website haben sich seit Jahresbeginn mehr als verdoppelt und erreichten in der vergangenen Woche 3,9 Millionen. In englischer Sprache stieg die Zahl der Besucher von bbc.com in Russland in der letzten Woche um 252 Prozent auf 423000.
An diesem Freitag wurde laut Globalcheck, einem Dienst, der Internetzensur in GUS-Staaten beobachtet, der Zugang zu BBC-Onlinediensten in Russland durch die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor drastisch eingeschränkt. Die BBC antwortete auf diesen Schritt, in dem sie auf zwei zusätzlichen Kurzwellenfrequenzen in der Ukraine und Teilen Russlands vier Stunden täglich englischsprachige Nachrichten zu senden begann. Außerdem veröffentlichte sie eine Anleitung, wie ihr Nachrichtenangebot im Darknet zu finden ist.
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Arte zeigt "Diener des Volkes" - jene Serie, in der Wolodimir Selenskij 2015 schon einmal Präsident war. Wenn auch unter komischeren Umständen.
Nach Nadine Dorries' Rede fragte die Abgeordnete Christine Jardin von der Scottish National Party die Ministerin, ob sie das soeben gespendete Lob berücksichtigen werde, wenn es um die Entscheidungen über die künftige Finanzierung der BBC gehe. "Ich habe immer gesagt, dass die BBC eine große britische Weltmarke ist und geschützt werden muss", antwortete Dorries. "Wir müssen das Finanzierungsmodell überprüfen, um die BBC zu schützen und das Beste für die BBC, einschließlich des World Service, zu erreichen."
Auch das stellte einen erstaunlichen Sinneswandel dar. Zuletzt hatte sie neben der mittelfristigen Abschaffung der Lizenzgebühr auch deren baldige Einfrierung angekündigt. Dies würde preisbereinigt einer Budgetkürzung gleichkommen und zu einer massiven Reduktion der Berichterstattung und potentiell auch zu Entlassungen beim Sender führen. Ob die derzeitige ostentative Zuneigung der Ministerin zu den heimischen Sendern anhält, wird sich wohl zeigen, wenn diese ihr Augenmerk wieder stärker auf die Regierungspolitik Boris Johnsons richten.