Den deutlichsten Hinweis auf die Gegenwart liefert eine mythische Gestalt aus der Vergangenheit: Che Guevara erscheint dem ukrainischen Staatspräsidenten Wassyl Petrowitsch Holoborodko und fordert ihn auf, seine korrupten Minister rauszuwerfen. Holoborodko traut sich nicht, er ist noch neu im Amt und ahnt nicht, wie mühsam der Kampf gegen die Korruption sein wird. Enttäuscht verschwindet der Guerillero und hinterlässt die wie in Blut getauchte Parole patria o muerte! - es gibt nur das Vaterland oder den Tod.
Die Serie Diener des Volkes macht sich über dieses kriegerische Pathos lustig, doch in der Wirklichkeit präsentiert sich der Darsteller des Holoborodko heute genau mit dieser Alternative: "Der Kampf ist hier. Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit." Wolodimir Selenskij will die Ukraine nicht verlassen und notfalls für seine Heimat sterben. Der Freiheits- und Vaterlandsheld Selenskij wird in Memes längst zu einer erlösergleichen Gestalt erhoben; bei Twitter werden seine "Balls" neben den Pyramiden und dem Grand Canyon zu den Dingen gezählt, die mit bloßem Auge aus dem Weltraum zu erkennen seien.
Fernsehzuschauer wissen noch mehr. Selenskijs Heldentum zeichnete sich, wenn auch mit weit weniger Ernst, bereits in der Serie Diener des Volkes ab. Die erste Staffel lief 2015 auf dem ukrainischen Sender 1 + 1, der dem Oligarchen Ihor Kolomoiskij gehört, der wiederum Wolodimir Selenskij und dessen Partei, die ebenfalls "Diener des Volkes" heißt, mit Geld und Beratern ins reale Präsidentenamt verholfen hat.
In der Serie, die jetzt auf Arte im Original mit deutschen Untertiteln zu sehen ist, spielte der Komiker Selenskij einen Geschichtslehrer, der kaum weiß, wie ihm geschieht, als er fast über Nacht zum Staatspräsidenten aufsteigt. Einer seiner Schüler filmt ihn, als seine ganze Wut auf ein korruptes, von sich schamlos bereichernden Oligarchen beherrschtes Regime aus ihm herausplatzt, und stellt das Video online. Der rechtschaffene Lehrer lässt sich aufstellen, wird überraschenderweise gewählt und darf sich als Heilsbringer in der Wirklichkeit bewähren.
Dass er dabei nicht völlig scheitert und sich trotz seiner Unbedarftheit gegen die schwerreichen Finstermänner behauptet, die von ihrer Macht nicht lassen wollen, dürfte nicht wenig zum Erfolg des Politikers Selenskij beigetragen haben. An seinem Bett sitzen einmal die griechischen Geschichtsschreiber Plutarch und Herodot und sprechen über ihren späten Schüler: "Sein Problem ist, dass er ehrlich ist."
Der Bibelexeget würde von Präfiguration sprechen, dem Zuschauer wird jedenfalls angst und bange, wenn dem Präsidenten neben Che Guevara auch Caesar erscheint, der ihn, die Dolche der Attentäter im Rücken, vor seinen Beratern warnt.
Selenskij entfaltet in der Rolle einen parsifalesken Charme, der seiner Karriere sicher nicht geschadet hat
Zwischendurch und vielleicht fürs Gemüt ist Diener des Volkes auch ganz normaler Komödienklamauk mit großmäuligem Geschwalle und familiärem Zwist. Die Frauen sind vom Typ Brillenschlange oder kaufsüchtig, die Männer hässlich und (was denn sonst) geldgierig und machtbesessen. Nur Stanislaw Boklan darf als Ministerpräsident Jurij Iwanowitsch Schujko eine gewisse Gustaf-Gründgens-hafte Gleißnerei entfalten; Machiavelli geht ihm ebenso glatt von der Zunge wie Tipps zur Stilberatung für den ahnungslosen Politiker.
Alles beherrscht natürlich von Wolodimir Selenskij, der seinem Holoborodko den parsifalesken Charme verleiht, der ihn dann auch in der bereits erwähnten Wirklichkeit ins höchste Amt in der Ukraine getragen und wider alles Erwarten zum Helden wenigstens der westlichen Welt hat werden lassen.
Wladimir Putin spielt ebenfalls eine Rolle und sorgt für den einen oder anderen Lacher, etwa wenn Holoborodko eine Uhr empfohlen wird, die angeblich auch der sowjetische Präsident trägt, oder wenn er die Unruhe in seinem Parlament mit der Nachricht beendet: "Putin ist gestürzt!" Erfunden natürlich, aber wäre es dem längst überlebensgroßen echten Selenskij nicht zuzutrauen, dass er am Ende den Sturz seines Gegners bewirkt?
"Seh ich wie ein Komiker aus?", fragt Holoborodko einmal den widerborstigen Verkehrsminister. "Ja", antwortet der, denn er will den neuen Chef und dessen Reformbemühungen auf keinen Fall ernst nehmen. Das war ein Fehler.
Diener des Volkes , in der Arte-Mediathek .
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