Natur als Heilmittel:Grüne Pille

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Schon ein 20-minütiger Spaziergang im Wald senkt den Blutdruck. (Foto: letizia haessig photography/www.imago-images.de)

In Kanada verschreiben Ärzte ihren Patienten neuerdings ein Medikament, das nichts kostet und gegen fast jede Erkrankung hilft: Zeit in der Natur. Die Idee könnte zu keinem besseren Moment kommen.

Von Jan Stremmel

Das Medikament braucht Zeit. Damit es wirkt, müssen sich Patienten zwei Stunden pro Woche freinehmen, jeweils mindestens zwanzig Minuten am Stück. Dafür müssen sie nichts zuzahlen, und die Nebenwirkungen sind überschaubar: eine leichte Gesichtsbräunung, gestraffte Waden, im schlimmsten Fall ein paar Blasen am Fuß.

Ärzte in Kanada können neuerdings ein Mittel verschreiben, über das man zunächst staunen mag: Zeit in der Natur. Bei der sogenannten "Park prescription" handelt es sich nicht um ein Medikament im pharmazeutischen Sinne - sondern um die dringende Empfehlung, sich im Dienste der Gesundheit mal länger an die frische Luft zu begeben.

Wer die Verschreibung von seinem Arzt bekommt und in der Nähe eines Nationalparks lebt, hat Anspruch auf einen kostenlosen Eintrittspass - die kanadischen Parkverwaltungen haben das Projekt mit initiiert. Seit Februar haben sich schon 4000 Ärzte, Psychologen und andere Gesundheitsexperten registriert, um ihren Patienten "Park-Verschreibungen" ausstellen zu dürfen. Wie viele sie seither verteilt haben, wird wegen des Datenschutzes nicht erhoben - aber dem riesigen Medienecho zufolge dürfte die Initiative ein Erfolg sein.

Dahinter steht die Erkenntnis, die in Hunderten Studien belegt ist: Nicht nur hält die Natur in Form von Pflanzen sehr effektive Heilmittel für den Menschen bereit - auch die Natur an sich wirkt heilend. Schon ein 20-minütiger Spaziergang im Wald senkt den Blutdruck und reduziert das Stresshormon Cortisol merklich. Die Natur mindert depressive Verstimmungen und Schmerzen, macht kreativer und glücklicher. Menschen, die in begrünten Wohngebieten wohnen, leben länger, Kinder haben verbesserte kognitive Fähigkeiten, wenn sie täglich im Wald spielen - die Natur wirkt sogar gegen ADHS.

"Es gibt so gut wie keine medizinische Diagnose, für die die Natur nicht hilfreich ist", fasst Melissa Lem es zusammen, die kanadische Hausärztin, die das Programm der Park-Verschreibungen ins Leben gerufen hat. Sie findet, die Natur sollte allgemein als "vierter Pfeiler" der Gesundheitsvorsorge gelten, also gleichwertig mit gesunder Ernährung, Schlaf und Bewegung.

Ihr selbst war schon als Kind klar: Wenn sie gestresst war, ging sie raus ins Grüne. So empfahl sie das später auch ihren Patientinnen, mit Erfolg. Weil die meisten Ärzte aber immer noch ausschließlich zu Medikamenten greifen, wenn jemand unter Bluthochdruck, Diabetes oder depressiven Verstimmungen leidet, ging Melissa Lem 2019 auf die Parkverwaltung von British Columbia zu. Sie schlug eine Kooperation vor: Gratistickets für kränkelnde Menschen - und im Gegenzug jede Menge neue Fans und Besucher für die Parks. Ein Jahr später ging es los, Melissa Lem ist seitdem die Direktorin des Programms.

22 Stunden am Tag drinnen: Unser modernes Leben ist nicht artgerecht

Im Grunde ist es ein Weg zurück zur Normalität. Als Spezies haben wir Millionen Jahre lang jede Sekunde draußen verbracht. Das Leben in Wohnungen, in Häusern, ja sogar in Städten ist menschheitsgeschichtlich betrachtet ein brandneuer Trend, an den unsere Körper noch lange nicht gewöhnt sind - und auf den sie mit Zivilisationskrankheiten reagieren wie Diabetes, Bluthochdruck und Allergien. Unser modernes Leben ist größtenteils nicht artgerecht.

Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO verbringen wir 22 Stunden am Tag in geschlossenen Räumen. Das sind Zustände wie in der Massentierhaltung; nicht mal Zootiere lassen wir so leben. Zwischen den Jahren 1800 und 2000 sei der Anteil der Menschen, die draußen arbeiten, von 90 auf 20 Prozent gesunken, sagt Russell Foster, Neurowissenschaftler in Oxford, in einer Yougov-Studie zu den Folgen des Indoor-Lebens von 2018. "In sehr kurzer Zeit sind wir von einer Outdoor-Spezies zu einer Art geworden, die ihre Zeit größtenteils in dunklen Höhlen verbringt."

Dass uns das nicht gut tut, merken die meisten von uns instinktiv. Nicht erst Corona hat Millionen Großstädtern den Zauber des Spazierengehens nahegebracht. Schon seit Jahren steigen die Mitgliedszahlen des Naturschutzbundes Nabu und des Deutschen Alpenvereins. Immer mehr Menschen erkennen, wie recht der Romantik-Dichter Ludwig Tieck hatte, als er schrieb: "Erst unterm Blätterhimmel wird der Mensch zum Menschen."

Für alle, die von ihren Instinkten schon so weit entkoppelt sind, dass sie von alleine nicht darauf kommen, mal ein Wochenende vom Sofa aufzustehen und zum Wandern zu gehen, sind also die "Park-Verschreibungen" gedacht. Eine ähnliche Idee wurde in den USA schon vor einigen Jahren umgesetzt: Das Benioff-Kinderspital in Oakland war vermutlich das erste, das seine jungen Patienten zu Heilzwecken in die nahe gelegenen Wälder brachte. 2018 nahm auch der National Health Service auf den schottischen Shetlandinseln das Medikament "Natur" in seinen Katalog der Verschreibungsmöglichkeiten auf - inklusive konkreter Vorschläge für Aktivitäten, die Patienten dort ausüben sollten: Muscheln sammeln am Strand, gärtnern, Robben zählen.

Die Idee ist übrigens nicht nur heilsam für Patienten, sondern im besten Fall auch für die Natur. Denn wer ein enges Verhältnis zu Wäldern, Tieren und Gewässern pflegt, versteht auch instinktiv, was dort gerade alles zerstört wird. Angesichts der Klimaerhitzung benötigen nämlich nicht mehr nur wir Menschen dringend die Hilfe der Natur - sondern mindestens genauso die Natur auch unsere Hilfe.

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