Kolumne Vor Gericht:Der vergiftete Junge

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(Foto: imago images/Petra Schneider)

Jahrzehnte nach dem Tod eines Achtjährigen wird dessen Mutter angeklagt. Über eine bemerkenswerte Suche nach der Wahrheit.

Von Verena Mayer

Die Frau fuhr stets erste Klasse nach Neuruppin. Sie trug ein elegantes Kostüm, die Haare hatte sie toupiert. So, als wolle sie zum Bummeln in die Innenstadt und nicht zu einem Mordprozess. Ihrem eigenen. Man warf der Frau vor, ihren achtjährigen Sohn getötet zu haben, 1974, in der DDR. Um ihn loszuwerden und in den Westen ausreisen zu können.

Der Prozess war einer der ungewöhnlichsten, die ich je beobachtet habe. Weil er 42 Jahre nach der angeblichen Tat stattfand. Weil er von einer dysfunktionalen Familie und einer dysfunktionalen Gesellschaft handelte und davon, wie die Wahrheit manchmal für immer verschüttet bleibt. Vor allem aber war da die Angeklagte. Diese 74-jährige Frau, die stets in denselben Zug nach Neuruppin stieg wie ich. Die beherrscht, fast gleichgültig wirkte und kein Wort sagte.

Dass sie überhaupt vor Gericht stand, lag an einem Brief, der 2009 bei der Staatsanwaltschaft einging. Darin stand, dass die Frau damals in Schwedt den Gasherd ihrer Wohnung angedreht habe, um ihren Sohn zu vergiften. Seine beiden Schwestern fanden den Jungen später tot in seinem Stockbett. Bis heute weiß man nicht, wer die Frau angezeigt hat. Sicher ist, dass sie alleinerziehend mit drei Kindern war und in einem DDR-Kombinat arbeitete. Und dass sie von einem anderen Leben träumte.

Sie nannte sich Sissi, ging oft aus, trank sehr viel. Der kleine Sohn war wohl schon früh verhaltensauffällig. Er stromerte in der Gegend herum, klaute Süßigkeiten, zündelte. Aber war er seiner Mutter wirklich so sehr im Weg, dass sie "die höchste Hemmschwelle für einen Menschen" überschreiten wollte, wie es der Richter nannte?

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Um das herauszufinden, schürfte das Gericht monatelang in den Tiefen der Vergangenheit. Ließ Leute aus dem Umfeld der Frau hören, manche waren über 80. Ließ Akten aus DDR-Archiven ausheben und einen Gutachter über Gasvergiftungen forschen.

Am Ende kam nichts dabei heraus, die Frau wurde freigesprochen. Zwar sei nichts ausgeschlossen, sagte der Vorsitzende Richter. Aber er halte es für wahrscheinlich, dass der Junge in der Nacht in die Küche gegangen sei, um heimlich zu naschen, in seinem Magen wurden Rosinen gefunden. Dass er am Herd spielte, ohnmächtig wurde und ihn jemand aus der Familie ins Bett gebracht habe, in der Hoffnung: Das wird schon wieder.

Was in dem Prozess jedoch ans Tageslicht kam, war eine große Gleichgültigkeit. Der Tod des kleinen Jungen wurde schnell abgehakt, von seiner Familie, von der Gesellschaft. Seine Mutter ging sofort wieder zur Arbeit, die Kollegen fragten nicht nach, die Behörden legten den Fall schnell zu den Akten. Nur eine Person muss Schuld gefühlt haben. War es eine Tochter, die die Mutter anzeigte? Die kleine, die mit ihrem Bruder im Zimmer schlief und mitbekommen haben muss, wie er starb? Oder die große, die von der Mutter in der DDR zurückgelassen wurde, als diese mit der anderen Tochter in den Westen ausreiste? Die Wahrheit, sie fuhr mit der eleganten Frau in der ersten Klasse davon.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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