Kolumne: Vor Gericht:Das falsche Geständnis

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Auch ein falsches Geständnis kann einen in Haft bringen. Hier die Justizvollzugsanstalt Tegel. (Foto: Paul Zinken/dpa)

Michael M. musste sechs Jahre für einen Mord ins Gefängnis, den ein anderer begangen hatte. Die Folgen spürte er ein Leben lang.

Von Verena Mayer

Seit ich mich mit Verbrechen beschäftige, habe ich viele Arten von Unrecht kennengelernt. Die Geschichte des Mannes, dem ich 2020 gegenübersaß, traf mich aber unerwartet. Michael M. wurde als unschuldig Verdächtigter in eine beispiellose Verbrechensserie hineingezogen. Weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war und dann auch noch das Falsche gesagt hatte.

M. war Ende 50, als ich ihn in einer Berliner Gaststätte traf. Er hatte lange abgeschlossen mit den sechs Jahren, die er für einen Mord im Gefängnis saß, den ein anderer begangen hatte. M. führte ein bürgerliches Leben, mit seiner Freundin und einem guten Job bei der Stadtreinigung. Doch M. hatte nicht mit dem Unrecht abgeschlossen, das ihm passiert war. Deshalb wollte er mir seine Geschichte erzählen.

M. war ein Mann, der es sich angewöhnt hatte, alles so zu nehmen, wie es kommt. Die Armut und Gewalt in seiner Jugend, die fehlenden Perspektiven im Neukölln der Achtzigerjahre. Mit Anfang zwanzig hatte M. keinen Job, die Sozialhilfe steckte er in Spielautomaten. Gewohnt hat er mal hier, mal da, zuletzt als Untermieter bei einer älteren Dame. Als diese eines Tages erwürgt und ausgeraubt in ihrer Wohnung aufgefunden wurde, geriet M. unter Verdacht. Er wurde von der Polizei verhört, stundenlang - und gestand die Tat.

Er war zur falschen Zeit am falschen Ort und hat dann auch noch das Falsche gesagt

Dass Menschen Verbrechen gestehen, die sie nicht begangen haben, kommt vor. Sie tun es, weil sie psychische Probleme haben oder um andere Leute zu schützen. Oder aber, weil sie dem Druck der Verhöre nicht standhalten. So wie M. Er habe einfach nur gewollt, dass es aufhört, erzählte er. "Ich wusste ja, dass ich es nicht war." Was er nicht wusste: Ein Geständnis ist schwer rückgängig zu machen. Zwar überprüfen Ermittler jede Aussage. Aber wenn alles scheinbar zusammenpasst, wird es meistens auch geglaubt. Dabei hatte M., wie sich später herausstellte, sogar ein Alibi. Er kam in Untersuchungshaft, vor Gericht, ins Gefängnis.

Seine Eigenschaft, alles so zu nehmen, wie es kommt, trug ihn durch die Jahre. Zu hadern begann er erst, als er auf Bewährung draußen war und der wahre Mörder gefasst wurde, einer der gefährlichsten Serientäter Berlins. In den Achtzigerjahren hatte dieser sechs Frauen überfallen, misshandelt und getötet, M.s Vermieterin war sein erstes Opfer. M. plagten Schuldgefühle, weil der Täter durch sein falsches Geständnis unbehelligt geblieben war und weiter morden konnte. Und M. merkte, dass man Unrecht zwar verfolgen und sühnen, aber nicht wiedergutmachen kann.

1996 wurde er in einem Prozess, in dem auch sein Alibi belegt wurde (er war zur Tatzeit auf dem Sozialamt gewesen) freigesprochen. M. sollte 30 000 Mark Haftentschädigung erhalten, doch dagegen ging der Staatsanwalt in Revision. Das Kammergericht urteilte: Wer sich falsch belastet, ist selbst schuld und hat keinen Anspruch auf Entschädigung. In unserem Gespräch sagte M., er hoffe, eines Tages doch noch Gerechtigkeit zu erfahren. Es war ihm nicht vergönnt. Im September 2021 starb Michael M. nach einer Krebserkrankung.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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