Kolumne: Vor Gericht:Der kleine Unterschied

Lesezeit: 2 min

Darf ein Mädchen auch im Knabenchor mitsingen? Hier ein Auftritt des Tölzer Knabenchors 2017. (Foto: Hartmut Pöstges)

Darf ein Mädchen im Knabenchor singen? Ein ungewöhnlicher Rechtsstreit bekommt eine filmreife Pointe.

Von Verena Mayer

Die interessantesten Dinge erfährt man manchmal, lange nachdem ein Gerichtsverfahren abgeschlossen ist. Dieser Fall war an sich schon ungewöhnlich. Es ging um ein Mädchen, das sich in einen Knabenchor einklagen wollte. Der Saal des Berliner Verwaltungsgerichts war 2019 dementsprechend voll, alle wollten wissen: Wer ist dieses Mädchen und warum tut sie das? Die Tochter, erzählte die Mutter vor Gericht, liebe lateinische Kirchenmusik, mache Stimmbildung und wünsche sich eine gute Gesangsausbildung. Die bekommt man in Berlin im renommierten Staats- und Domchor. Das einzige Problem: Der Staats- und Domchor ist ein Knabenchor.

Der lehnte das Mädchen prompt ab. Der Dekan der zuständigen Musikfakultät schrieb der Mutter: "Ihr Wunsch ist aussichtslos. Niemals kann ein Mädchen in einem Knabenchor mitsingen." Die Frau, die selbst Anwältin ist, fand das diskriminierend und beschloss zu klagen.

Vor Gericht ging es um Kunst und darum, was einen Knabenchor ausmacht. Der Chorleiter hielt einen ausufernden Vortrag über "Klangfarbe und Klangraum" von männlichen Stimmen, stimmte dabei immer wieder ein paar Töne an. Das Mädchen habe zwar eine schöne Stimme, sagte er, diese entspreche aber nicht dem "Knabenchorklang". Um es kurz zu machen: Das Mädchen verlor in allen Instanzen. Es gelte, so das Urteil, die Kunstfreiheit. Und unter die falle die Entscheidung des Chorleiters, dass die Mädchenstimme nicht in den Knabenchor passe.

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Der Fall erhitzte die Gemüter. Weil er davon handelt, was höher wiegt, die Freiheit der Kunst oder das Recht auf Chancengleichheit der Geschlechter. Und weil es um die Institution des Knabenchors geht, die in Deutschland viele Fans hat.

Die Schlusspointe der Geschichte kommt aber erst jetzt. Nach meinem Bericht über das Urteil meldete sich eine Pianistin. Sie erzählte mir, dass sie in den Siebzigerjahren in genau jenem Knabenchor gesungen hatte. Nicht offiziell allerdings - sie gab sich als Junge aus. Sie schickte mir ein Foto eines Chorauftritts, auf dem sie als kleines blondes Kind mit Kurzhaarschnitt und in geschlechtsneutralen Siebzigerjahre-Klamotten zu sehen ist. Im Gespräch verstand ich, warum ein Mädchen unbedingt in einem Knabenchor singen will. Weil Knabenchöre künstlerische und finanzielle Möglichkeiten haben, die kaum ein Mädchenchor bekommt. Und diese Möglichkeiten wollte eben auch ein Kind namens Julia.

Die Anekdoten, die die Frau aus ihrer Knabenchor-Zeit erzählte, sind filmreif. Das Mädchen ging auf die Jungstoilette, und wenn sie etwas unterschreiben musste, hängte sie ein "n" an ihren Vornamen: Julian. Sie habe es "schön gefunden, ein kleines Geheimnis zu haben". Ihre Eltern unterstützten sie, Julia hatte schon als Grundschülerin ein absolutes Gehör. Einmal trafen die Eltern auf dem Ku'damm zufällig den Chorleiter und fragten, ob SEINE Stimme auch gut genug für den Chor sei. Absolut, sagte der Chorleiter. Es ist eben alles relativ, gerade in Geschlechterfragen.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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