Kolumne: Vor Gericht:Die Raser

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Blick auf die gesperrte Tauentzienstraße in Berlin nach dem tödlichen Autorennen über den Kurfürstendamm 2016. (Foto: Britta Pedersen/dpa)

Ist es Mord, wenn Autofahrer mit 160 km/h durch die Innenstadt brettern und dabei einen Menschen töten? Unsere Kolumnistin war dabei, als in Deutschland Rechtsgeschichte geschrieben wurde.

Von Verena Mayer

Manchmal ist man live dabei, wenn Rechtsgeschichte geschrieben wird. Bei mir war das, als ein Verkehrsunfall vor dem Berliner Landgericht landete. Zwei junge Männer waren 2016 mit 160 Kilometer pro Stunde über den Kurfürstendamm gerast und hatten dabei den Jeep eines alten Mannes gerammt. Der Fahrer war sofort tot.

Ähnliche Fälle endeten vor Gericht oft mit Bewährungsstrafen, manchmal auch nur mit Geldstrafen wegen fahrlässiger Tötung. Die wenigsten Raser wollen schließlich, dass jemand stirbt. Auch die beiden jungen Männer auf der Anklagebank wollten sich nur ein kurzes Straßenrennen liefern. So wie sie es in Actionfilmen wie "The Transporter" gesehen hatten. Doch diesmal stellte die Justiz ein paar rechtsphilosophische Fragen. Die setzten nicht beim Unfall selbst an, sondern in den Momenten zuvor. Nimmt jemand, der durch die Innenstadt rast, nicht in Kauf, dass jemand zu Schaden kommt? Handeln Menschen, die sich auf dem belebten Ku'damm ein Straßenrennen liefern, nicht zutiefst egoistisch, sind also angetrieben von niedrigen Beweggründen? All dies würde darauf hindeuten, dass ein Mord geschehen ist.

Es folgte ein sehr emotionaler Prozess. Man erfuhr viel über das Leid von Menschen, deren Angehörige im Straßenverkehr getötet wurden. Man erfuhr aber auch viel über Menschen, deren einziger Lebensinhalt das Auto ist. So wie bei den Ku'damm-Rasern. Die jungen Männer hatten keine Perspektiven, aber sie hatten einen Mercedes AMG CLA 45 und einen Audi A6 TDI. Damit rasten sie durch Berlin, riefen "Wir ficken die Straße und die Scheißwelt, in der wir leben!" und filmten sich dabei. Man sah eine Psychologin im Zeugenstand, die nichts anderes tut, als Raser zu begutachten, weil es so viele gibt. Eines vereine alle, sagte sie: Selbstüberschätzung, das Gefühl der Unverwundbarkeit und das Bedürfnis, sich über ein Fahrzeug zu definieren. In ihren Begutachtungen hörte sie Sätze wie: Das Auto ist für mich wichtiger als die Freundin. Oder: Wenn ich sterbe, möchte ich mit meinem Auto begraben werden.

Der Crash auf dem Ku'damm beschäftigte zwei Strafkammern des Berliner Landgerichts, den Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht. Immer wieder musste etwas neu überprüft werden, etwa die Frage, ob ein Raser wirklich den Tod anderer in Kauf nimmt. Ob ein Auto ein gefährliches Tatmittel wie eine Waffe ist. Ob nicht jedes illegale Straßenrennen ein Mordversuch ist, und wenn ja, wo man die Grenze zieht zu unkontrolliertem Fahren. Knapp sieben Jahre nach der Tat stand dann 2022 fest: Einer der beiden Raser hat einen Mord begangen, der andere einen Mordversuch. Nicht zuletzt konnte man miterleben, wie lange und präzise die Justiz arbeiten muss, um aus einer naheliegenden Frage (Sind Raser Mörder?) einen Präzedenzfall zu machen.

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