Filmfestspiele Venedig:Blutgeld

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Die Fotografin Nan Goldin begann nach dem Tod ihrer Schwester mit der Kamera zu arbeiten. (Foto: dpa)

Der Dokumentarfilm "All The Beauty and the Bloodshed" über die Fotografin Nan Goldin und ihren Kampf gegen die Schmerzmittelsucht gewinnt beim Festival von Venedig den Goldenen Löwen. Eine gute Wahl?

Von Tobias Kniebe

Als das Festival am Samstagabend zu Ende ging, war die größte Siegerin von Venedig schon nicht mehr da. Julianne Moore, die Jurypräsidentin, überreichte den Golden Löwen für den besten Film an Laura Poitras, die Dokumentarfilmerin und Regisseurin von "All The Beauty and the Bloodshed". Doch im Moment des Triumphs war Poitras das, was sie auch in ihrem Film ist - eine treue und zurückgenommene Chronistin für das Leben und das Werk, die Krisen und Rebellionen, die Wut und den Aktivismus der Künstlerin Nan Goldin. "Das ist für Nan", rief sie auf der Bühne.

Dieser Hauptpreis in Venedig ist eine weitere erstaunliche Wendung in Nan Goldins Leben, seit es ihr im Jahr 2017 gelang, eine dreijährige, lebensbedrohliche Opioid-Sucht zu besiegen. Sucht, das zeigt sie in "All The Beauty and the Bloodshed", ist ihr Lebensthema: nach der fehlenden Liebe ihrer Eltern, die sie auch für den Selbstmord ihrer Schwester verantwortlich macht; nach spannenden aber auch gewalttätigen Männern ("The Ballad of Sexual Dependency", 1986); nach Heroin in der New Yorker Drogenszene, die sie mit ihren inzwischen sehr berühmten Fotos dokumentiert hat.

Die amerikanische Regisseurin Laura Poitras bei der Preisverleihung in Venedig. (Foto: Andreas Solaro/AFP)

Das Schmerzmittel Oxycontin aber, seit 1995 hergestellt von der Firma Purdue Pharma, auf Rezept erhältlich und mit großem Aufwand vermarktet, war das schlimmste Suchtmittel, dem sie je begegnet ist - und wird inzwischen für geschätzt 400 000 Drogentote allein in den USA verantwortlich gemacht. Ein monumentales Systemversagen der Medizin, ein Beispiel für gewissenlosen Lobbyismus zur Umgehung jeder ärztlichen Sorgfaltspflicht, den man nur verbrecherisch nennen kann - auch wenn er legal war und ist. Der Familie Sackler, den Besitzern von Purdue Pharma, hat das laut Forbes-Magazin ein Vermögen von 13 Milliarden Dollar eingebracht.

Gegen diese Familie kämpft Goldin nun mit der von ihr gegründeten Aktivistengruppe P.A.I.N., und Laura Poitras - die mit "Citizenfour" den Oscar gewann, ihrem Film über Edward Snowden - war von Anfang an mit der Kamera dabei. Der Goldene Löwe ist nun der jüngste Erfolg der Kampagne: Durch den von Goldin geprägten Begriff des "Blutgelds" ist der Name Sackler, einst durch Spenden und Stiftungen in vielen bedeutenden Kunstmuseen der Welt vertreten, inzwischen überall getilgt und gelöscht. Der Großteil der Profite ist aber immer noch im Familienbesitz, auch nach der Insolvenz von Purdue Pharma. Goldins Kampf, das macht der Film klar, geht weiter.

Warum will eine Mutter ihr Kind töten? Davon erzählt das Drama "Saint Omer"

Warum sie so eine gute Kämpferin ist? Vermutlich weil sie furchtlos entschlossen ist, auch ihren eigenen Traumata immer weiter auf den Grund zu gehen, wie man in "All The Beauty and the Bloodshed" sieht. Bis hin zu der Entdeckung, dass ihre emotional gestörte Mutter selbst einst missbraucht wurde. Diese Art der Aufarbeitung verbindet sie mit "Saint Omer", dem Gewinnerfilm des Silbernen Bären. Er steht ebenfalls für die Neigung der Jury zum Dokumentarischen. Zwar hat die französisch-senegalesische Filmemacherin Alice Diop hier ihren ersten Spielfilm gedreht, sie kommt aber vom Dokumentarfilm und bleibt auch diesmal sehr nah an der Wirklichkeit.

Es geht um einen Prozess wegen Kindsmord aus dem Jahr 2013 in Frankreich, der in der Stadt Saint Omer verhandelt wurde - Diop war damals Prozessbeobachterin. Die Angeklagte stammt wie sie aus dem Senegal, eine hochintelligente Philosophiestudentin aus besserer Familie, deren Leben in Paris aus den Fugen gerät - bis sie beschließt, ihre einjährige Tochter nachts am Strand in Nordfrankreich zurückzulassen, damit diese von der Flut geholt wird und ertrinkt. So passiert es auch, und das französische Rechtssystem gibt sich nun Mühe, diese rätselhafte Tat zu verstehen, genau wie Diop selbst. Ihr Alter Ego im Film ist gerade schwanger, doch es hilft alles nichts, es bleibt ein Rätsel, das niemand lösen kann. Genau das macht die Stärke von "Saint Omer" aus, der auch als bester Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde.

Das unerklärliche Unglück fügt sich in einen pessimistischen Grundzug, der die Mehrheit der Preisträger zu verbinden scheint. Luca Guadagnino gewann als bester Regisseur für sein tragisches Teenie-Menschenfresser-Drama "Bones and All", und er war sicherlich der Italiener im Wettbewerb, dessen Blick am wenigsten nach innen gerichtet ist - auf eine italienische Filmtradition, die in diesem Jahr zunehmend kraftlos und überholt erscheint. Im Gegensatz dazu gibt sich Guadagnino, der viele Welten verbinden kann, hier als der bessere Amerikaner.

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Die Geschichte steht in der Tradition des Drifter-Dramas, ein Roadmovie durch den mittleren Westen der USA auf der Suche nach Heimat und Familie, nur eben zusätzlich mit einer nicht therapierbaren Lust auf Menschenfleisch. "Bones and All" versucht, ein kommerzieller Film zu sein und doch anzuerkennen, dass ein junges Kannibalenpärchen schlecht in ein Happy End davonfahren kann. Eine Feier des Außenseiterdaseins, die sogar an die frühen Arbeiten von Nan Goldin erinnern könnte - die schwarze Hauptdarstellerin Taylor Russell gewann auch den Nachwuchs-Schauspielpreis. Jedoch bleibt ein Grundproblem: Die angeborene Lust auf Menschenfleisch ist dann doch ein eher mutwilliges Konstrukt.

Tragisch endet auch die Geschichte der Stardirigentin Lydia in Todd Fields Musikdrama "Tár", für deren Darstellung Cate Blanchett den Coppa Volpi als beste Darstellerin gewann. Zwei Drittel des Films muss sie als Maestra der Berliner Philharmoniker strahlende Kompetenz und tiefe künstlerische Integrität ausstrahlen - und wem würde man das eher abkaufen als ihr? Dass darin auch fundamentale Selbstzufriedenheit, ja Selbstgerechtigkeit aufscheint, wischt man lange beiseite: Dürfen weibliche Künstlerstars das nicht ebenso ausstrahlen wie männliche? Und doch wird dann alles zusammenbrechen, und auch das steckt in dieser Performance von Anfang an drin.

Die australische Schauspielerin Cate Blanchett wurde als beste Darstellerin ausgezeichnet. (Foto: Andreas Solaro/AFP)

Colin Farrell, der Sieger bei den männlichen Darstellern, schafft dagegen eine etwas beschränkte, aber von Grund auf gutmütige Figur, der man ein böses Ende erst einmal gar nicht zutraut. Der Bauer Pádraic in "The Banshees of Inisherin" muss damit fertigwerden, dass sein bester Freund nicht mehr mit ihm reden will, und es damit überraschend und blutig ernst meint. Ein wahres Nicht-Ereignis vor der irischen Küste, circa 1923, das den armen Pádraic in seiner Sinnlosigkeit vollkommen aufreibt - bis auch seine dunkelsten Seiten zutage treten. Besser hat man Farrell tatsächlich noch nie gesehen. Sein Regisseur und Autor Martin McDonagh bekam den Drehbuchpreis für die Kunst, diese Sinnlosigkeit vollkommen zwingend eskalieren zu lassen.

Angesichts der allgemeinen Tendenz zum Tragischen, die das Wettbewerbsprogramm in seiner Gesamtheit durchaus wiedergibt, erscheint der Goldene Löwe für Nan Goldin am Ende wie ein Aufbäumen, ein Gegenprogramm. Denn ja - es ist absolut richtig, Jafar Panahi für seine Film-im-Film Tragödie "Khers nist / No Bears" noch einmal einem Spezialpreis der Jury zu geben, obwohl er schon fast alle wichtigen Preise gewonnen hat. Man würdigt damit seinen im Geheimen gedrehten und aus dem Polizeistaat Iran herausgeschmuggelten Film, lässt ihm Aufmunterung zukommen in seine Gefängniszelle in Teheran, hilft ihm, stützt seinen Lebenskampf für die Freiheit der Kunst im Iran. Auch Laura Poitras rief auf der Bühne zu seiner Freilassung auf.

Vor allem aber hofft man doch, dass solche Kampagnen gegen die Kräfte der Dunkelheit auch mal Wirkung zeigen. Dass scheinbar unbesiegbare Gegner ihre Unterstützer und ihre Seelenruhe verlieren, dass sie von einem Gefühl für Gerechtigkeit in die Knie gezwungen werden. Nan Goldin macht vor, wie das geht. Und so ist der Goldene Löwe vor allem auch ein donnerndes "Weiter so!". Wird diese Naturgewalt der Kunstwelt ruhen, bevor die Sacklers noch den letzten Cent ihrer schmutzigen Profite wieder abgeben müssen? Man sollte nicht darauf wetten.

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