Filmfestspiele Venedig:Ein Fall für die Psychiatrie

Filmfestspiele Venedig: Komplizierte Familienbande: Zen McGrath, Laura Dern und Hugh Jackman im Venedig-Beitrag "The Son".

Komplizierte Familienbande: Zen McGrath, Laura Dern und Hugh Jackman im Venedig-Beitrag "The Son".

(Foto: Rekha Garton/obs)

"Das Härteste, was ich je gemacht habe", sagt die Schauspielerin Vanessa Kirby über ihre Rolle im Familiendrama "The Son". Der Film feiert Premiere im Wettbewerb des Festivals von Venedig.

Von Tobias Kniebe

So anstrengend die Sache mit der geballten Filmkunst manchmal werden kann, gelegentlich erlebt man auch ganz beiläufige Momente des Glücks. Etwa wenn man mit Vanessa Kirby auf den sehr blauen Golf von Venedig hinausblicken darf und über die alte Regel der Theaterdramaturgie philosophiert, nach der eine Waffe, die im Dialog erwähnt wird, später im Stück auch losgehen muss.

"Ah, Tschechows Gun!", ruft sie. Sie hat fünf Jahre auf den Bühnen von London gespielt, bevor sie Prinzessin Margaret in der Netflix-Serie "The Crown" wurde und Gegenspielerin von Tom Cruise in der "Mission Impossible"-Reihe. 2020 gewann sie die Coppa Volpi als beste Schauspielerin in Venedig, für den Spielfilm "Pieces of a Woman".

Folglich ist Kirby naturgemäß begeistert, wieder am Lido zu sein, und den Schlüsselsatz mit der Waffe darf sie in ihrem Wettbewerbsfilm "The Son" sagen, der neuen Arbeit von Florian Zeller. Der französische Romancier und Dramatiker ist seit zwei Jahren auch ein aufstrebender Filmregisseur. Er verwandelt seine sehr psychologischen Theaterstücke erfolgreich in englischsprachiges Starkino. Zuerst war "The Father" dran, in dem Anthony Hopkins sich in der Demenz verlor und einen Oscar gewann, nun folgt "The Son" mit Hugh Jackman, Laura Dern und Vanessa Kirby - und auch wieder mit Anthony Hopkins.

Die Jagdwaffe im Badezimmer dürfte nicht nur eine Dekoration bleiben in "The Son"

Wer in dieser Konstellation der titelgebende Sohn ist, kann man gar nicht so genau sagen. Peter (Jackman) hat sein Leben lang unter der Kälte seines Vaters (Hopkins) gelitten, der ein hohes politisches Tier in Washington war. Dennoch ist was aus ihm geworden: Er ist Partner einer großen New Yorker Anwaltskanzlei. Außerdem ist er geschieden und mit einer neuen jungen Frau (Kirby) liiert, samt Baby. Sein Leben gerät aus dem Tritt, als sein siebzehnjähriger Sohn aus erster Ehe plötzlich in der Schule versagt und wieder zu ihm zieht. Bald kann man nicht mehr übersehen, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmt - und zwar so massiv, dass eine längst vergessene, im Badezimmer verstaute Jagdwaffe plötzlich schwer zu denken gibt.

Da spürt man Tragik heranrollen, in diesem Wettbewerb von Venedig schon ein vertrautes Gefühl. Selbst wenn es eher fröhlich und kauzig beginnt, wie in Martin McDonaghs "The Banshees of Inisherin", der zur Zeit des irischen Bürgerkriegs auf einer kargen Insel vor dem Festland spielt. Da gibt es den knorrigen Insel-Violinisten Colm, gespielt von Brendan Gleeson, und den gutmütigen Bauern Pádraic, verkörpert von Colin Farrell - beste Pubfreunde seit ewigen Zeiten. Bis Colm eines Tages sagt, er möge Pádraic nicht mehr und wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Filmfestspiele Venedig: Beste Pubfreunde, zumindest bis jetzt: Colin Farrell und Brendan Gleeson in "The Banshees of Inisherin".

Beste Pubfreunde, zumindest bis jetzt: Colin Farrell und Brendan Gleeson in "The Banshees of Inisherin".

(Foto: dpa)

Niemand auf der Insel nimmt diesen Spleen wirklich ernst, auch Pádraic nicht, aber das ist genau der Punkt des Films. Denn in den Händen eines Meistererzählers wie McDonagh ("Three Billboards Outside Ebbing, Missouri") glaubt man dann eben doch, dass irische Sturheit sich nicht so einfach wieder auflöst. Sondern sich, ganz im Gegenteil, jederzeit weiter steigern kann, bis Finger abgeschnitten werden, Häuser brennen und die Banshees, die irischen Totenfeen, ihr Klagelied anstimmen. Am Ende wird das die ungewöhnlichste Meditation über einen Bruderkrieg, die man sich denken kann. Die ehemaligen Freunde sind unversöhnlich und wissen nicht einmal mehr, warum.

Auch "The Eternal Daughter" wird kein lustiger Film werden, schon die allererste Szene macht das klar. Da fährt ein Auto durch eine neblige Nacht in Wales, es geht zu einem prächtigen einsamen Landsitz, von dem der Fahrer gleich mal erzählt, dass es darin spukt. Die schicksalhaft breiten Streicherflächen auf dem Soundtrack bewerben sich schon in dem Moment für den Bernard-Herrmann-Gedächtnispreis. Das alte Haus entpuppt sich als Hotel, das keine Gäste mehr hat, jetzt checken aber Mutter und Tochter ein, beide gespielt von Tilda Swinton.

Im Folgenden schwelgt Joanna Hogg, die mit ihren zwei "Souvenir"-Filmen zur großen Hoffnung des englischen Autorenkinos geworden ist, beinah orgiastisch in allen Klischees des traditionsreichen britischen Geisterkinos. Jede knarzende Tür wird zelebriert, jedes unerklärliche Klopfen nachts im Haus, jeder dunkle verwinkelte Gang, jede Nebelschwade vor den Fenstern. Die Mutter, stellt sich heraus, spielte als Kind einst in dem Haus, und die Tochter wirkt seltsam überanstrengt bei dem Versuch, ihr noch einmal eine wirklich schöne Zeit voller Erinnerungen zu ermöglichen.

Filmfestspiele Venedig: Doppeltes Spiel: Tilda Swinton in "The Eternal Daughter".

Doppeltes Spiel: Tilda Swinton in "The Eternal Daughter".

(Foto: Sandro Kopp/dpa)

Natürlich kann man kaum übersehen, dass die beiden Frauen nie in derselben Einstellung zu sehen sind. Das könnte wohl von der Scheu herrühren, Tilda Swinton per Computer zweimal ins Bild zu kopieren, schließlich trägt sie hier ja eine doppelte Schauspiellast. Der eigentliche Grund liegt dann aber doch tiefer, und er führt auf die richtige Spur. So sehr die Spukschloss-Atmosphäre auch äußere Bedrohungen suggeriert - die Tragik des Films kommt am Ende von innen.

Von der tragischen Tochter zurück zum tragischen Sohn: Auch "The Son" wird in Trauer enden - da erweist sich der alte Tschechow dann doch als verlässlicher Prophet. Im Gedächtnis bleibt dabei vor allem der junge australische Newcomer Zen McGrath, der dem siebzehnjährigen Sohn eine Aura tiefster Verletztheit verleihen kann. Er wirkt zu gleichen Teilen vollkommen hilflos, beängstigend manipulativ und wirklich gefährlich, für sich selbst und andere. Anders gesagt, er muss dringend in psychiatrische Behandlung, und Vanessa Kirby spielt die Figur in dem Film, die das noch am ehesten sieht.

Diese nimmt sich aber total zurück, aus Loyalität mit ihrem neuen Ehemann. "Das war wohl das Härteste, was ich je gemacht habe, diese totale Unterdrückung der Gefühle zu spielen", sagt Kirby. "Ich an ihrer Stelle hätte keinen Tag so überstanden." Das existenzielle Dilemma der Tragödie aber hat nicht sie zu tragen, sondern die Eltern des Jungen, die schließlich eine fast unmögliche Wahl treffen müssen: zwischen der Liebe zu ihrem Sohn - und dem Glauben an die Vernunft seines Psychiaters.

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