Es ist kein schöner Tod, eher schon ein modellhafter. Ein Stechen im Nacken, ein Schmerz in den Schläfen, der beschleunigte Atem. Dann lässt der zugeschwollene Hals keinen Hilferuf mehr zu, ein Röcheln nur, das die Gäste des Restaurants für die Laute eines Betrunkenen halten. Koma.
Nach vier Tagen stirbt der übergelaufene KGB-Offizier Wyrin, einer von ungezählten Opfern toxischer Substanzen in Sergej Lebedews Roman "Das perfekte Gift". Die Menschen kommen um durch kontaminierten Grauburgunder oder präparierte Gebetsketten, in Menschenversuchen oder bei Laborunfällen. Meist ist Russland der Täter, früher die Sowjetunion, obwohl natürlich auch Deutschland eine riesige Anzahl Vergifteter auf dem Gewissen hat. Nach Stahl und Schießpulver ist Gift die Waffe der Wahl, der verschwiegenste Söldner für moderne Konflikte. Und nimmt man hinzu, dass Angst das beste Gift ist, wie es an einer Stelle heißt, weil der Menschen es sozusagen selbst herstellt, dann dürfte dies noch eine Zeit lang so bleiben.
Chemiker Kalitin gelingt das Meisterstück: ein Gift, das unbemerkt tötet
Sergej Lebedew muss den Namen Wladimir Putins gar nicht nennen. Man denkt ohnehin an Litwinenko, Skripal, Nawalny. Russland ist in diesem Buch kein Land oder System, sondern ein albtraumhafter, auswegloser, durchaus im religiösen Sinne verdammter "state of mind". Zwei Gegenspieler bewegen sich aufeinander zu, einer furchterregender als der andere. Der besessen amoralische Chemiker Kalitin erforscht den Tod so leidenschaftlich wie Mediziner das Leben. Seit seiner Kindheit lebte er auf der "Insel", einem geheimen Wissenschaftlerrefugium, das für ihn "Heiligtum, Gefängnis, Altar und Testgelände" gleichermaßen war. Nach Jahren unermüdlicher Forschung gelang ihm das Meisterstück, ein Gift, das unbemerkt tötet. Der Tod ist schmutzig, das weiß Kalitin, er hinterlässt Indizien, natürliche Spuren. Dieses Gesetz zu überlisten, bedeutet, die Natur, das Sein, die Schöpfung selbst zu besiegen. Der Name des Präparats lautet "Debütant".
Und nun soll dieser Kalitin durch den "Debütanten" sterben. Denn auch er hat sich abgesetzt aus der zerfallenden Sowjetunion, nachdem er in eine Intrige geraten war. Auf den Fersen ist ihm ein Mann, der genauso wenig Skrupel besitzt wie er, allerdings auch keinerlei Raffinesse. Oberstleutnant Scherschnjow foltert jeden, der zu foltern ist, empfindet bei Irrtümern bestenfalls eine gewisse professionelle Scham. Der Tod des Ex-KGB-Agenten Wyrin hat die Spur auf Kalitin gelenkt, also reist Scherschnjow mit einem Kollegen in den Osten Deutschlands, im Gepäck eine Phiole "Debütant". Aber auch Kalitin hat einen Flakon seines besten Produktes hinausgeschmuggelt. Lebedew liebt solche Symmetrien. Fast alle wichtigen Motive tauchen doppelt auf, alles hängt mit allem zusammen, greift ineinander wie die Zähne eines Getriebes. Eine luftleere, undurchdringliche Enge entsteht so. Es gibt keinen Ausweg, kein Draußen.
Die einzige Lichtgestalt ist Trawniczek, ein ostdeutscher Dorfpfarrer, der zur Wende populäre Predigten hielt und deshalb ebenfalls vergiftet wurde. Er überlebte zwar, wurde aber entstellt. Sein Gesicht blieb schuppig wie das einer Echse. Bei Lebedew schlagen noch die Wunder aufs Gemüt.
Die Männer sind sich gegenseitig auf den Fersen, jeder weiß, was der andere tut
Dafür hat man lange nicht mehr so originelle Beschreibungen der Unfreiheit gelesen, notwendigerweise meist aus dem Inneren der Apparate. "Warum konnten sie in jenen Jahren die Menschen nicht einfach begraben? Warum hatten sie Ermittlungen durchgeführt, Papiere beschrieben, Formalitäten berücksichtigt, wenn sie doch wussten, dass alles eine Lüge war? Wozu diese Prozedur?", fragt Kalitin und erkennt: "Den Vollstreckern zuliebe. Es war für sie ein Haltegriff, damit sie nicht verrückt wurden und den Gehorsam nicht verweigerten."
Die entfesselte Bürokratie mit ihren sinnfreien Operationen, dem ritualhaften Verfassen von Berichten, der Verschwendung von Ressourcen war kein Effekt der Diktatur, sondern ihr Zweck: "Genau in diesem Durchsieben von gehaltlosem Erz manifestierte sich die totale Macht." Zwangsläufig sind deshalb die Jäger auch Gejagte. Während Scherschnjow und sein Kollege auf Wunsch der Vorgesetzten einer umständlichen Route folgen, immer wieder aufgehalten durch ausgefallene Zugabteile, ein Versagen des Buchungssystem, basale Nickeligkeiten der Wirklichkeit, belauern sie sich gegenseitig. Jeder wird einen Bericht über den anderen schreiben, das wissen beide. Gewohnheitsmäßig kontrollieren sie nicht nur das, was sie sagen, sondern auch das, was sie denken.
Manchmal treibt Lebedew es mit der Verfinsterung der Welt etwas weit, denn ob wirklich auch der Zapfhahn "wie im Todeskampf" röchelt, ist ja sehr die Frage. Aber kleiner hat er es nicht. Dies ist sein fünfter Roman, auch seine Vorgängerbücher kreisen um Russlands Vergangenheit, die Stalin-Zeit, die deutsch-russische Geschichte. Lebedew ist Geologe, er hat in den Weiten Russlands gearbeitet, Gesteine untersucht, sedimentierte Zeit. Nichts anderes tun Historiker.
"Das perfekte Gift" aber ist mehr als ein historischer Roman und trotz aller Spannung und der entsprechenden Zutaten auch kein Agententhriller. Die wahre Konfrontation spielt sich nicht zwischen dem Giftmischer und seinem Verfolger ab, Lebedew geht es um nicht mehr und nicht weniger als ein Ringen von Gut und Böse. Das Böse ist mächtig und reproduziert sich selbst in einer "Kettenreaktion", einer "Tautologie". Trawniczek, der entstellte Pfarrer, beschreibt es als einen "Haufen verrottender, von schwarzen Würmern zernagter Früchte", ein Zerrbild des Paradieses. Aber das Gute ist nie fern. Kalitin arbeitet und experimentiert in einer einstigen Kapelle. Einsicht, Umkehr sind jederzeit denkbar.
Sergej Lebedew hat einen mystisch aufgeladenen Ton in die junge russische Literatur gebracht. Eine Ahnung von russischem Sendungsbewusstsein, von Russland als Schauplatz finaler Glaubensfragen scheint da auf. Das hätte etwas Überholtes, wäre die Überwindung der Unfreiheit nicht so brennend aktuell.