"Red Rocket" im Kino:Zur Sache

Lesezeit: 3 min

Der Versuch, dem Sexbusiness den Rücken zu kehren, wird gleich schiefgehen: Mikey (Simon Rex) lernt im "Donut Hole" den Teenager Strawberry (Suzanna Son) kennen. (Foto: Universal)

Ein Pornodarsteller will seine Karriere beenden, kommt dann aber doch wieder in Versuchung. Die Tragikomödie "Red Rocket".

Von David Steinitz

Der Pornodarsteller Mikey hat mit 1300 Frauen geschlafen. Behauptet er zumindest. Irgendwann zählt man nicht mehr so genau mit, sagt Mikey. Außerdem ist er dreimal mit dem "Adult Video News"-Award ausgezeichnet worden. "Das ist der Oscar der Pornobranche", erklärt er stolz, falls jemand nicht gleich Bescheid weiß.

Das Problem an (ungefähr) 1300 Geschlechtspartnerinnen und drei "Adult Video News"-Awards: Diese Referenzen können ihm nach seinem Ausstieg aus dem Pornogeschäft nicht mal einen Job im hinterletzten Fast-Food-Laden verschaffen. "Was sollen denn unsere Gäste denken, wenn sie Sie zufällig wiedererkennen?", fragt die Besitzerin eines Lokals beim Vorstellungsgespräch pikiert.

Zu Beginn der Tragikomödie "Red Rocket" kehrt Mikey aus Los Angeles in seine Heimatstadt Texas City zurück. In der Tasche hat er 22 Dollar und im Gesicht ungefähr genauso viele blaue Flecken. Der Abschied aus der Pornoindustrie lief nicht ganz reibungslos, die Gründe dafür sind etwas dubios und bleiben im Unklaren. Jedenfalls will Mikey jetzt abschließen mit der alten Karriere, die begann, als es noch Videotheken gab und die Leute DVDs kauften.

Mikey ist ein "suitcase pimp". Der Begriff ist eher nicht als Kompliment gedacht

Er bequatscht seine skeptische Ex-Frau Lexi, mit der er einst die ersten Filme drehte, ihn auf der Couch schlafen zu lassen. Sie hat zwar keine Lust auf den unzuverlässigen Herumtreiber und die Erinnerung an eine Zeit, mit der sie längst abgeschlossen hat. Aber streng genommen sind sie trotz Trennung immer noch verheiratet, denn sie haben sich nie scheiden lassen. Und das Geld, das er als Beitrag zur Miete verspricht, könnten sie und ihre Mutter, mit der sie das abgewirtschaftete Haus teilt, gut gebrauchen. Doch die Wohngemeinschaft mit dem Ex endet natürlich im Chaos, denn Mikey ist ein waschechter "suitcase pimp".

Als suitcase pimp bezeichnet man in der amerikanischen Pornoindustrie den Partner einer Pornodarstellerin, der sich von der Frau aushalten lässt, wofür er sich im Gegenzug ein bisschen um ihre Angelegenheiten kümmert. Angelegenheiten, das können Agententätigkeiten sein, aber auch das Entfernen von lästigen Spermaflecken oder ein Aushilfsauftritt vor der Kamera. Der Begriff des suitcase pimp hat Regisseur Sean Baker zu dieser Geschichte inspiriert. Denn Männer, die man so bezeichnet, gleichen ihr Nebenrollendasein in der zweiten Reihe gerne durch große Prahlerei und zweifelhafte Geschäfte aus, und sie geraten regelmäßig in Schwierigkeiten. Sie sind also fabelhafte Figuren fürs Kino. Baker dachte sich für "Red Rocket" den suitcase pimp Mikey aus, der an der Seite vieler Frauen im Erotikbusiness aufstieg, die meisten von ihnen übel ausnutzte - und natürlich auch nach seiner Rückkehr in die Provinz Ärger provoziert.

Mikey versucht aufrichtig, einen Aushilfsjob zu ergattern, blitzt aber überall ab. Dann lernt er an der Kasse des "Donut Hole" eine hübsche, rothaarige Teenagerin (Suzanna Son) kennen. Sie trägt den Spitznamen Strawberry und beflügelt seine kühnsten Lolita-Fantasien: Könnte er dieses perfekte Mädchen von nebenan nicht nach L.A. bringen, zum begehrten Pornostar aufbauen und eine Menge Geld verdienen?

Die Geschichte spielt kurz bevor Donald Trump Hillary Clinton die Präsidentschaft wegschnappte

Regisseur Sean Baker gehört zu den spannendsten Filmemachern des amerikanischen Independent-Kinos. Er besetzt seine Filme gerne mit Leuten, die das, was sie spielen, auch schon erlebt haben. Sein Hauptdarsteller Simon Rex war früher wirklich Pornodarsteller.

Und Baker dreht am liebsten dort, wo Hollywood fast nie hingeht: in den heruntergekommenen Vorstädten oder der abgelegenen Provinz, wo sich trostloste Parkplätze und Ladenzeilen aneinanderreihen. Zuletzt drehte er 2017 "The Florida Project" über die Bewohner eines schäbigen Motels im Schatten der Glitzerwelt des Walt Disney Resort. Der Film etablierte Sean Baker als Regisseur, der den Zustand Amerikas jenseits der Glamourzentren mit dokumentarischer Schärfe in tragikomische Spielfilme zu packen weiß. Baker hasst große Filmsets im Hollywood'schen Sinn. "Red Rocket" hat er mit einer Crew von nur gut zehn Leuten (plus den Schauspielerinnen und Schauspielern) während des ersten Pandemiejahres an verschiedenen Orten in Texas gedreht. Das "Donut Hole" zum Beispiel gibt es in seiner ganzen Fast-Food-Tristesse genauso, wie es im Film zu sehen ist.

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Texas City, die real existierende Heimatstadt seines erfundenen Protagonisten, ist mit seiner Schwerindustrie, den barackenartigen Siedlungen und den Bewohnern mit den schlechten Zähnen und den miserablen Ernährungsgewohnheiten einer jener Orte, die in Amerika gerne als "abgehängt" bezeichnet werden.

Es ist natürlich kein Zufall, dass Baker diese Geschichte in der jüngeren Vergangenheit angesiedelt hat, und zwar in dem Sommer, bevor Donald Trump Hilary Clinton die Präsidentschaft wegzuschnappte. Sehr zum Entsetzen vieler Menschen, die gerne das Wort "abgehängt" für den Großteil ihrer Mitbürger verwenden. "Red Rocket" ist kein Film über die Gründe für Trumps Sieg. Aber er fängt die desillusionierte Stimmung im Land kurz vor dem Epochenwechsel, den Trumps Wahl bedeutete, nüchtern und pointiert ein.

Und die Figur des Mikey ist mit ihrem zwielichtigen Charme, ihrem aggressiven Humor, ihrem Zwangsoptimismus und dem Hang, immer den anderen die Schuld an der eigenen Misere zu geben, zwar nicht direkt ein kleiner Trump. Aber doch eine jener uramerikanischen Hustler-Persönlichkeiten, die dieses Land seit seiner Gründung im Großen wie im Kleinen geprägt haben. Die Verführungstechniken der Pornoindustrie, lernen wir jedenfalls im Verlauf dieses Films, sind von denen der Politik nicht immer allzu weit entfernt.

Red Rocket , USA 2021 - Regie: Sean Baker. Buch: Sean Baker, Chris Bergoch. Kamera: Drew Daniels. Mit: Simon Rex, Bree Elrod, Suzanna Son, Brenda Deiss. Universal, 128 Minuten. Kinostart: 14. April 2022.

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