"Parallele Mütter" im Kino:Neues Leben, alter Schmerz

Lesezeit: 4 min

Kennen sich von der Entbindungsstation: die Mütter Ana (Milena Smit) und Janis (Penélope Cruz). (Foto: El Deseo / Studiocanal)

Das Drama der Mutterschaft und die Wunden der spanischen Geschichte, diese Themen treiben Pedro Almodóvar schon lange um. In seinem neuen Film "Parallele Mütter" verwebt er sie kunstvoll.

Von Philipp Stadelmaier

Den forensischen Anthropologen, der in ihre Kamera lächelt, mit einem künstlichen Totenschädel abzulichten? Janis, die Fotografin, ist skeptisch; das wirkt vielleicht doch etwas überladen. Dafür konfrontiert sie ihn, nach dem Shooting, bei sich zu Hause in Madrid mit Fotografien ihres Urgroßvaters, der im Spanischen Bürgerkrieg mit anderen Männern ihres Heimatdorfes von Faschisten ermordet und auf einem Feld in einem Massengrab verscharrt wurde. Sie bittet Arturo, so heißt der Forensiker, der für eine Stiftung arbeitet, bei der Bergung der sterblichen Überreste zu helfen, damit die Nachkommen der Familien ihren Frieden finden. Er ist einverstanden.

Zwischen Janis (Penélope Cruz) und Arturo (Israel Elejalde) entsteht eine Attraktion. Als sie sich einige Zeit darauf wiedersehen, schlafen sie miteinander, die vierzigjährige Janis wird unerwartet schwanger. Auf der Entbindungsstation lernt sie eine junge Frau kennen, Ana (Milena Smit), die ebenfalls ein Baby bekommt. Nach der Geburt gehen sie getrennte Wege, bis Janis ein Geheimnis entdeckt, dass ihre Leben erneut - und kompliziert - miteinander verknüpft.

Mutterschaft und Geschichte sind wie zwei parallele Stränge, die sich durch das Schaffen Pedro Almodóvars schlängeln, um sich nun, in "Parallele Mütter", zu einer Doppelhelix zu verschränken. Um Mütter ging es bei dem spanischen Regisseur schon immer - von "High Heels" bis hin zu "Julieta". Gleichzeitig begleitete der spanische Filmemacher wie ein feiner Seismograph die spanische Gesellschaft, ihre Gegenwart wie ihre Vergangenheit.

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Auch dieser Film ist genau datiert: Wir sind im Jahr 2016, der konservative Präsident Rajoy hat gerade Stiftungen, die sich der Aufarbeitung der Verbrechen der Franco-Zeit widmen, die Mittel gekürzt. Das Drama der beiden Mütter, Janis und Ana, ergibt sich nun ganz konkret aus Janis' körperlichem Kontakt mit dem Anthropologen, ihrem Bedürfnis, die Vergangenheit auszugraben. Ein Kind wird sterben, ein anderes der Mutter weggenommen, Beziehungen werden beendet, Geliebte grausam zurückgewiesen.

Aus dem Verlust entstand bei Almodóvar oft obsessives Begehren

Der Verlust, der Schmerz und die Möglichkeit, mit ihm weiterzuleben, das war schon immer der emotionale Kern von Almodóvars Kino. Aus dem Verlust entstand gerade in seinen früheren Filmen ein obsessives Begehren, das die "Lücke" unbedingt schließen wollte. Dazu gehörten nicht nur die zahllosen erotischen Abenteuer in den Filmen des Spaniers, sondern auch ein formalistischer Furor: die Farben, die Kostüme, die Dekors, der Pop, die Travestie, der ganze postmoderne Pastiche, die Referenzen an die Film- und Kunstgeschichte, der Touch von Soap Opera in seinen Plots, der auch in "Parallele Mütter" vorhanden ist. Janis' Wohnung ist ultraschick, in einer Szene fotografiert sie Luxusschuhe und -taschen für ein Hochglanzmagazin. Der Pop, le chic, der Kitsch sind immer noch gute Trostpflaster für existentielle Krisen.

Doch es gab auch immer schon eine andere Seite bei Almodóvar: das Dunkle, das Melancholische, die Erinnerung, dass Verlorenes immer auch unwiederbringlich verloren ist. Es ist dieser Schmerz, der spätestens seit "Julieta" ins Zentrum seines Kinos vorgerückt ist. In dem Film von 2016 gab es eine kleine Kunstfigur, einen Torso, Zeichen der emotionalen Verstümmelung im Leben der Hauptfigur, deren Tochter einst den Kontakt zu ihr abbrach. In "Leid und Herrlichkeit" zeigte Almodóvar dann 2019 mit der von Antonio Banderas verkörperten Figur einen alternden Filmemacher, der die Herrlichkeit seiner Kunst ebenso verkörperte wie den physischen und seelischen Schmerz, der ihn niederstreckte.

Das Begehren - nach anderen Körpern, nach Kunst, nach Schönheit - war natürlich immer noch da, aber etwas hatte sich definitiv verändert. "Parallele Mütter" macht diese Wende zum Schmerz unübersehbar. Die Liebesszenen, in einem Hotel oder im Schlafzimmer von Janis, finden im Verborgenen statt, im Dunkeln. Die Abblenden an den Enden der Szenen, von den Gesichtern ins Schwarz, wirken so endgültig wie noch nie. Selbst ein schwarzer Kaffee wird noch in ein schwarzes Bild überblendet. Es geht immer noch dunkler. Es geht immer noch schmerzhafter.

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Die Botschaft von "Parallele Mütter" lautet, dass man dem Schmerz, dem historischen und gegenwärtigen Unrecht ins Auge sehen muss, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Damit, über die Abgründe hinweg, neue Bindungen, neues Leben und Lieben entstehen kann. Die Verbrechen der Falangisten müssen ebenso klar aufgearbeitet, angeschaut, benannt und angeklagt werden wie etwa die Vergewaltigung, bei der die junge Ana schwanger wurde, und die von ihrem Vater aus Angst vor einem Skandal vertuscht wurde; der Film positioniert sich hier klar in der #Me Too-Ära. Man muss außerdem deutlich sagen, dass eine trans Frau selbstverständlich eine Frau ist, die nun "endlich", wie Janis bei einem Shooting sagt, auf dem Cover eines Frauenmagazins erscheinen darf. "We should all be feminists", steht auf ihrem T-Shirt.

Was ist "Familie"? Ein Konstrukt, ein Phantasma, eine Herausforderung

Denn diese Geschichte der Mütter ist, ganz klar, eine Geschichte der Frauen. Die Männer sind tot (wie Janis' Großvater), abwesend (wie Anas Vater), oder haben Nebenrollen (Arturo der Anthropologe). Janis' Mutter benannte ihre Tochter einst nach Janis Joplin und starb wie die Sängerin im Alter von 27 Jahren. Anas Mutter ließ ihre Tochter für eine Schauspielkarriere im Stich, wobei es später Ana ist, die ihre Mutter verlässt und zu Janis flüchtet. Der Film zelebriert alleinerziehende und alleinstehende weibliche Personen, macht sie zu Bewahrerinnen und Zerstörerinnen generationeller Bande, lässt sie neue Beziehungen und Allianzen schmieden und wieder aufkündigen.

Was ist schon eine "Familie"? Ein Konstrukt, ein Phantasma, eine Herausforderung, im schlimmsten Fall das Produkt einer nationalistischen oder heteronormativen Ideologie. Ihr gegenüber steht der Drang des Lebens, sich von den Wurzeln abzuschneiden und neue, gesündere Bindungen zu suchen, steht der Drang nach Ausbruch und Abenteuer, aber eben auch nach Aufarbeitung alter Traumata, nach Heilung.

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Daher das Gefühl, dass der Film sofort zur Sache kommt, keine Sekunde Zeit verliert. Daher die Direktheit und Umstandslosigkeit, mit der die Figuren sich gegenseitig ansprechen, die Situationen aufeinander folgen. Die Figuren tragen die Geschichte - die Geschichte Spaniens - ebenso wie die Schwere der Gegenwart mit sich herum, und vor allem auf den Lippen. Die roten vollen Lippen von Penélope Cruz hatte Almodóvar vor allem in "Volver" gefilmt, in den Status eines Kunstwerkes erhoben.

Aber ebensowenig wie die Kleider oder das ganze schicke Dekor sind sie nicht einfach nur dazu da, um hübsch zu sein. Die Lippen, die Körper, ebenso wie die Bilder an den Wänden oder die unwirklich fettglänzenden Tortillas auf Janis' Herd, sind dazu da, um Geschichte zu erzählen, sie auszusprechen, sie der Stille zu entreißen, sie zu verbinden, mit dem Fleisch der Gegenwart und den Knochen der Vergangenheit. Diese Knochen sind aus dem Sieb des Anthropologen, den Bildern der Fotografin und dem Kino von Pedro Almodóvar fortan nicht mehr wegzudenken.

Madres paralelas , Spanien 2021 - Regie und Buch: Pedro Almodóvar. Kamera: José Luis Alcaine. Musik: Alberto Iglesias. Mit Penélope Cruz, Milena Smit, Israel Elejalde, Aitana Sánchez-Gijón. Studiocanal, 123 Minuten. Kinostart: 10. 3. 2022.

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