Ein wahre Geschichte aus den frühen Achtzigerjahren: Nach außen hin präsentieren sich die Puccios als gewöhnliche Familie aus Buenos Aires' Villenviertel San Isidro. Doch der Schein trügt: Familienoberhaupt Arquímedes ist ein brutaler Kidnapper, der den Wohlstand des Clans mit erpresstem Lösegeld sicherstellt. Seine Entführungsopfer ermordet er meistens - so hat er es in den Jahren der Militärdiktatur (1976 - 1983) gelernt, als er für die Junta Menschen verschwinden ließ. Der Patron spannt seinen ältesten Sohn Alex in die Entführungsaktionen ein, indem er ihm die väterliche Anerkennung zuteil werden lässt, die er ihm ansonsten verweigert. Regisseur Pablo Trapero hat den Fall, der die argentinische Gesellschaft bei der Aufdeckung 1985 erschütterte, unter dem Titel "El Clan" verfilmt. Der Thriller sprengte in Argentinien alle Rekorde an den Kinokassen und ist seit vergangener Woche auch in Deutschland zu sehen. Achtung, Spoiler-Alarm: Im Interview kommt auch das Ende des Films zur Sprache.
SZ.de: Herr Trapero, die Familie Puccio, die Sie im Film zeigen, gab es wirklich. Was an Ihrer gespenstischen Geschichte entspricht der historischen Wahrheit?
Pablo Trapero: Ich fürchte, sehr viel. Was die strafrechtliche Seite angeht, präsentieren wir sie exakt so, wie es von verschiedenen Zeugen vor Gericht dargestellt wurde. Das heißt, die Fakten und Namen sind eins zu eins der Realität entnommen, und auch alles, was gerichtlich dokumentiert ist: Familienangehörige der Opfer haben zum Beispiel sehr genau geschildert, wie die Übergabe der Lösegelder verlaufen ist, und das haben wir so weit wie möglich im Film nachgestellt. Auch die Stellungnahmen von Anwälten, Richtern, Journalisten und allen Leuten, die irgend etwas wussten, haben wir verarbeitet.
Ihr Film beleuchtet aber auch sehr stark den Familienalltag hinter verschlossenen Türen. Haben Sie den ebenfalls rekonstruiert?
Ja, da haben wir uns auf Zeugenberichte von Leuten verlassen, die der Familie nahe standen. Also Nachbarn, Freunde, die im Haus ein- und ausgingen, oder Mitspieler aus Alex' Rugbyteam und seinen Trainer. Aus all diesen Mosaiksteinen haben wir das Bild der Familie zusammengesetzt, die wir im Film zeigen. Natürlich mussten wir uns vieles dazudenken, denn in den Achtzigerjahren gab es noch keine Foto-Handys oder digitalen Videokameras, mit denen das tägliche Leben wie heute rund um die Uhr dokumentiert werden konnte.
Nach außen wirkte die Familie Puccio sehr angepasst, was nicht erstaunt - sie musste sich ja tarnen. Doch hätten sie mit so viel Bürgerlichkeit auch hinter der Fassade gerechnet?
Nein. Als ich mit den Recherchen begann, erwartete ich, fiesen Typen zu begegnen. Figuren wie in "True Detective", Asozialen. Doch dann stellte sich das als eine ganz normale Familie heraus, die in ihr soziales Umfeld vielfältig integriert war. Der Vater war ein Buchhalter, die Mutter eine Lehrerin, Alex war der Star der Rugby-Mannschaft, in der er spielte und ein Vorbild für den Nachwuchs.
Wie erklären Sie sich das Nebeneinander dieser zwei ungleichen Zustände: Das Profane in aller Alltäglichkeit und das Böse in seiner ganzen Unzulässigkeit?
Ich denke, in der Familie Puccio spiegelt sich etwas, wovon die gesamte argentinische Gesellschaft bis heute befallen ist. Die meisten von uns lebten unter der Diktatur, in der Menschen verschwanden, und uns war es egal. Denn viele profitierten davon. Wenn sich jemand zum Komplizen eines Übeltäters macht, dann in aller Regel deswegen, weil sich für ihn daraus ein Vorteil ergibt. Wegzusehen rentiert sich - zumindest eine Zeit lang. Dieser Mechanismus funktioniert auf gesellschaftlicher Ebene genauso wie im individuellen oder im familiären Bereich.
Diese Komplizenschaft aus Eigennutz manifestiert sich im Film vor allem in den Frauen der Familie. Es wird angedeutet, dass sie wissen, was im Haus vorgeht, aber sie gehen darüber hinweg. Alles andere würde ja auch die sichere bürgerliche Existenz in Frage stellen. Sehr viel stärker widmet sich der Film aber Alex, der zum richtigen Täter wird, weil er von seinem Vater emotional abhängig ist. Warum haben Sie ihn zur zentralen Figur gemacht?
Das Familienleben bildet nur den Hintergrund des Films, das gilt auch für die zeitgeschichtlichen Aspekte und sogar für die Verbrechen. Im Wesentlichen ist "El Clan" aber das Porträt einer Vater-Sohn-Beziehung, um das der ganze Film aufgebaut ist. Diese Konstruktion war eine große Herausforderung, weil wir deswegen eine Vielzahl von Genres verarbeiten mussten.
Das fällt auf. In "El Clan" enthält zum Beispiel Thrillerelemente, aber ein richtiger Thriller ist der Film nicht. Die Ermordungen werden nicht groß gezeigt.
Ja, man könnte den Film allen möglichen Gattungen zurechnen. Ein Stück weit ist er ein Thriller, aber auf eine Art auch eine klassische Tragödie. Anklänge eines surrealen Melodrams wie bei Buñuel finden sich, und Charlie Chaplin hat mich ebenfalls inspiriert. Man könnte "El Clan" ansatzweise auch für einen "Film noir" halten. Denn dieses Genre stellt den Menschen typischerweise zunächst in seinem vertrauten Umfeld dar - in der Verbundenheit einer Beziehung oder einer Familie - um ihn dann in die Realität außerhalb des geschützten Raumes zu werfen.
Ist denn der spektakuläre Sprung von Alex vom fünften Stock im Treppenhaus des Gerichtsgebäudes ein Thrillerelement oder eine wahre Begebenheit?
Beides. Als die Familie Puccio Anfang der Achtzigerjahre aufflog, war das ein großes Medienereignis in Argentinien. Ich war damals erst 13 Jahre alt, doch ich kann mich noch sehr gut erinnern, denn die Geschichte war einfach so unglaublich. Einige Jahre später gab es dann wieder viel öffentlichen Wirbel um die Puccios, eben wegen dieses Sprungs von Alejandro.
Warum war es Ihnen wichtig, den Film mit dieser Wahnsinnsaktion abzuschließen? Nur, um den Fakten gerecht zu werden?
Nicht unbedingt. Für mich leitet die Szene den Epilog ein - den Abspann, der das weitere Schicksal der Familie erzählt. Denn durch Alejandros Sprung werden Vater und Sohn getrennt, vorher waren sie stets ein ungleiches Tandem. In der Szene bricht es auseinander. Die Entzweiung der beiden sagt aus meiner Sicht viel über jedes Vater-Sohn-Verhältnis aus. Das heißt nicht, dass man als Sohn Selbstmord begehen muss, doch vor der Herausforderung einer Beziehung, die sich ständig verändert, stehen jeder Vater und jeder Sohn. Erst lernt der Sohn vom Vater und wird von ihm angeleitet, doch irgendwann einmal lehnt sich der Nachkomme gegen die tradierte Haltung des Vaters auf. Das ist ein universelles Thema, dass als Ende gut gepasst hat.
Sie sprechen vom Epilog des Films, wodurch sich die Frage nach dem Prolog aufdrängt. Irgendwie fehlt der in Ihrem Film, der die Familiensage in ihrer verbrecherischen Hochphase erzählt - die ganze Vorgeschichte jedoch auslässt. Wie konnte es aus Ihrer Sicht zu diesem monströsen Fall kommen?
Die Antwort kann erneut der "Film noir" geben. Generell gesprochen, kam in diesem Genre immer wieder zum Ausdruck, dass es sinnlos und schädlich ist, die Augen vor den Gegebenheiten zu verschließen. Wenn sich eine Gesellschaft, eine Familie oder ein Individuum weigert, etwas Schlechtes, wie zum Beispiel eine Diktatur realistisch wahrzunehmen, wird das Elend nicht einfach verschwinden, sondern sich noch schlimmer, gewaltsamer und brutaler entfalten.
Das müssen Sie erläutern.
Lassen Sie es mich an einem Beispiel verdeutlichen: Als wir "El Clan" im vergangenen Jahr in Venedig vorstellten, ging gerade das Foto des ertrunkenen Jungen am Strand von Bodrum um die Welt. Die Politiker waren perplex. Sie sprachen darüber so, als ob sich eine solche Tragödie zum allerersten Mal zugetragen habe. Dabei wissen wir alle, dass Flüchtlinge seit acht Jahren im Mittelmeer ertrinken. Doch die Verantwortlichen ignorierten das - bis es durch dieses ikonografische Foto unübersehbar wurde. Dasselbe ließe sich über die Anschläge von Paris oder die Amokläufe in den USA sagen. Die Realität fordert uns auf, ihr unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Verweigern wir das, wird sich die Wirklichkeit als noch größeres Desaster präsentieren.
Wie lange hat die Familie Puccio ihre Augen vor den Untaten des Familienoberhauptes verschlossen?
Viele Jahre. Arquímedes hat ein sehr langes Sündenregister und war praktisch sein ganzes Leben lang in zwielichtige Geschäfte verwickelt. Er arbeitete schon in den späten Sechzigerjahren, noch in der Regierungszeit von Juan Peron, für den Geheimdienst. In den Jahren der Diktatur ließ er Menschen verschwinden und danach blieb er dabei.