Künstlerinnenroman:Ich, ich, ich

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Monika Helfer ist 1947 im Vorarlberg geboren. Ihr großer Erfolg begann mit einer Familientrilogie, für deren zweiten Teil "Vati" sie 2021 für den Deutschen Buchpreis nominiert war. (Foto: Sebastian Gollnow/picture alliance/dpa)

Von der inspirierenden Konkurrenz unter Freundinnen erzählt Monika Helfer in "Die Jungfrau". Eine hintersinnig schöne Geschichte über versäumte Leben und die Macht des Erzählens.

Von Marie Schmidt

Bei der Schriftstellerin Monika Helfer meldet sich eine Jugendfreundin, die sie seit über vierzig Jahren kaum gesehen hat. "Moni, schreib eine Seite über mich", verlangt sie, "denn wenn ich sterbe, ist dann noch etwas von mir da." Es sei ihr 70. Geburtstag gewesen, an dem der Brief der Freundin kam, verrät Helfer in ihrem Buch "Die Jungfrau". Sie erzählt darin, wie in dreien ihrer Vorgängerromane, mit allen Zeichen autobiografischer Authentizität: Sie spricht von sich als Monika, dem Leben als Schriftstellerin, ihrem Mann "Michael", in dem der Schriftsteller Michael Köhlmeier zu erkennen ist.

Monika Helfers 70. Geburtstag, das wäre kurz vor dem durchschlagenden Erfolg ihres Buchs "Die Baggage" von 2020 gewesen. Mit dieser Familiengeschichte fing ihre Karriere spät noch einmal neu an. Sie wurde ein Bestseller, nachdem die vorangegangenen Romane und Erzählungsbände weniger Aufmerksamkeit abbekommen hatten als beispielsweise die von Michael Köhlmeier. Und auch "Vati" von 2021 und "Löwenherz" von 2022 sind viel gelesene und geliebte Lebensgeschichten.

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Fast alle Zeitungen und Medien im deutschsprachigen Raum schickten seitdem Reporterinnen zu ihr nach Hohenems im Vorarlberg, um das dicht mit Bildern und Erinnerungsstücken besiedelte Wohnzimmer von Helfer und Köhlmeier zu beschreiben und eine harmonische Dichterehe zu bewundern, in der sich die Gewichte verschoben hatten: Jetzt galt das Hauptinteresse Monika Helfer, und ihr Mann stand in der Küche und machte Kaiserschmarrn.

"Ich lese alle deine Interviews", sagt die Freundin in Helfers neuem Buch: "Ich gebe deinen Namen in den Google ein, drücke auf News und auf die letzten vierundzwanzig Stunden, und dann sehe ich, was es Neues über dich gibt." Auf dem Wege hätte sie also in den vergangenen Jahren einiges erfahren können über das liebevolle, sinnliche, erfolgreiche Leben von Monika Helfer. Während die Erzählerin Monika ihre Freundin einsam und verwittert wiederfindet, in genau der Situation, der sie seit Jahrzehnten zu verharren scheint: im Haus ihrer verblichenen Mutter, am schütteren Körper einen Kimono, wie die ihn auch getragen hatte: "Ein ewiges Mädchen". Sie gibt also kein Bild ab, zu dem ihr glänzender Name "Gloria" passen würde.

"Gloria war immer eine gewesen, die meine Einbildungskraft anzündete"

Als Kind hat sich diese Gloria fantasievolle Geschichten ausgedacht, um zu ersetzen, was ihr fehlte: der Vater, über den die Mutter auch nur Widersprüchliches preisgab. Gloria schmückte das aus, überzeugte sich vor allem selbst, bis sie schon halb auf dem Weg war aus Bregenz zu einem imaginären Vater in der 147 Ludlow Street, Manhattan. Schon die junge Monika durchschaut die Selbsttäuschung.

An der Freundin lernt sie einen Charaktertypus kennen, der, was immer er tut, leicht outriert: "Sie flirtete nicht, sie spielte nur Flirten." Und doch geht diese bestimmte Energie von ihr aus: "Gloria war immer eine gewesen, die meine Einbildungskraft anzündete, zu schönen Bildern und zu weniger schönen."

Monika Helfers eigener Text über dieser Freundschaft sendet, von den biografischen Merkmalen bis zu ihrem nüchtern pragmatischen Ton, alle literarischen Signale für die Echtheit ihrer Geschichte. In einem Interview mit dem Stern gibt sie aber an: "Es steckt 30 Prozent Wahrheit darin, 70 Prozent sind erfunden. Ich habe Gloria aus vielen Freundinnen zusammengesetzt."

Monika Helfer: Die Jungfrau. Roman. Carl-Hanser-Verlag, München 2023. 152 Seiten, 22 Euro. (Foto: Hanser/Hanser)

Sie hat sich damit also eine Gegenfigur erschaffen: Monika kommt aus sehr bescheidenen Verhältnissen in der schlecht beleumundeten Südtiroler Siedlung in Bregenz. Gloria und ihre Mutter leben in mehr Räumen, als sie bewohnen können, und "kauften alles und von allem und immer zu viel". Monika ist unsicher, von Gloria heißt es: "Es wäre ihr nicht gelungen, sich den anderen gleichgültig zu machen." Gloria inszeniert sich als Femme fatale, Monika macht wohl ihre Erfahrungen, redet aber nicht darüber.

Gloria geht auf die Schauspielschule nach Wien, beginnt ein Bohème-Leben, Monika bleibt in Bregenz und wird Mutter, ihr erster Mann ist "einer, den Gloria gern besessen hätte. Er war ein Mann, der mich beneidenswerter machte, als ich war". Die Ehe selbst bringt sie eher in Verlegenheit.

Als sie über vierzig sind, hat Monika vier Kinder, die zweite Ehe ist die glückliche Künstlerverbindung. Und Gloria bettelt: "Erzähl mir wenigstens, wie es ist, wenn man ein Kind kriegt, Moni." Als sie sich mit über siebzig wiedersehen, gesteht Gloria ihr Geheimnis: "Ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen."

Monika Helfer kommt das Wort "Jungfernschaft" in den Sinn, als sei es doch eher eine Haltung als etwas, das der Freundin wirklich widerfahren ist. Die beiden Frauen in diesem Buch jedenfalls konkurrieren brutal, sind eng verklammert, spiegeln sich, physisch bis in die Körpergerüche hinein und existenziell: Die eine stellt für die andere das Leben dar, wie es hätte werden können.

"Darf ein Leben in der Einbildung nicht ebenso als Wirklichkeit bezeichnet werden?"

Dem ersten Eindruck nach ist es so gekommen: All die Geschichten, die Gloria von sich erzählt, haben nicht gehalten, sind nicht wahr geworden, sie ist inmitten ihrer Illusionen vereinsamt, während Monika ein Leben aus dem Vollen führt. In ihre Erzählung über die Freundin fügt sie diesen Disclaimer ein: "In einem Leben, in dem die Wirklichkeit von der Einbildung in die Bedeutungslosigkeit gedrängt ist, muss die Frage nach der Wahrheit merkwürdig klingen. Als ein sprachlicher Störenfried. Darf ein Leben in der Einbildung nicht ebenso als Wirklichkeit bezeichnet werden?" Sind das nun wirklich Fragen über Gloria, oder nicht vielmehr die eines Schriftstellerlebens, also ihres eigenen?

Auch die Frage des Genres, das Monika Helfer zuletzt so viel Erfolg beschert hat, des Autofiktionalen, schiebt sie der anderen zu: "Wenn einer dauernd 'Ich' sagt, heißt das nicht unbedingt, dass er daran Gefallen hat, wie er ist. Gloria sagt 'Ich' und schaut mich flehentlich an. 'Ich, ich, ich!'"

Da steht also das Ich, das zur Literatur werden will, Aug in Auge mit dem erlebenden und erzählenden Ich. Und an dieser weiblichen Version des Doppelgänger-Motivs spielt Monika Helfer in ihrer bescheiden amüsanten Art die dringenden Fragen von Kunst und Leben im 21. Jahrhundert durch.

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